Abenteuer Wildnis

Für Birgit, die weltbeste Paddelpartnerin

Die Besatzungen der drei Boote sind eingespielt. Jedes Team hat seinen eigenen Takt gefunden. Die Stechpaddel teilen das Wasser und treiben die Kanadier in ruhiger Gleichförmigkeit den Fluss hinab. Soeben haben sie einen weiteren See passiert, und ohne dass es einer besonderen Absprache bedurft hätte, beginnen acht Augenpaare wieder, die Ufer zu beiden Seiten des Flusses zu beobachten, auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht. Von einigen wenigen Stunden abgesehen, regnet es bereits den vierten Tag in Folge. Geht der Blick voraus, verschwimmt der Horizont im modrigen Braunschwarzgrau des Svartälven und dem bleiernen Regengrau einer Wolkenbank, die den nächsten Regenschauer ankündigt. Die Teams sind inzwischen soweit, den vorherrschenden feinen Nieselregen als relativ gutes Wetter einzustufen. Dabei hatte es eigentlich recht vielversprechend begonnen…

„Südfrankreich!“

„Italien!“

„Neiiin, ich will in ein Haus nach Dänemark! Bitte, bitte, bitte.“

„Och nöööö, nicht schon wieder.“

„Ich will aber. Menno!“

„Niemand interessiert sich dafür, was DU willst.“

Annika, Jasper, Thorben und Jonathan geben wieder  einmal alles, nur nichts Vernünftiges von sich. Eine konstruktive Diskussion zur Bestimmung eines gemeinsamen Urlaubszieles geht irgendwie anders, denke ich, und beginne das Chaos mittels taktischem Feingefühl, über das allseits beliebte Ausschlussverfahren in geordnete Bahnen zu lenken:

„Hm, warum nicht mal in Deutschland bleiben?“

Unter der Federführung meiner Frau, kommt man schnell zu der Erkenntnis: Ich bin ein mieser Spießer und Spielverderber. Deutschland, pfff. Mein Kumpel Thomas fragt mich:

„Und wohin fährst du, wenn du alt bist?“

„In den Harz, sagt mein Arzt“, witzelt Petra. Und für einen kurzen Augenblick herrscht Einigkeit am Tisch. Für einen sehr kurzen Augenblick.

„Hotel!“

„Ferienhaus!“

„Camping!“

„Au ja, eine Fahrradtour mit Zelt und Schlafsack“, wage ich einen zweiten Anlauf.

Überraschtes Schweigen. Ich höre sie denken.

„Eine Revival-Fahrradtour durch Schweden“, grinst Birgit, in Anspielung auf eine entsprechende und durchaus denkwürdige Fahrradtour aus früheren Tagen, als wir noch keine teuren Kinder, sondern teure Campingausrüstungen hatten.

„Ich bin dabei.“

In den Gesichtern der versammelten Erbgutträger macht sich eine verhaltene Skepsis breit.

„Schweden ist gut“, wägt Thomas, Birgits Mann, ab, „aber wie wäre es mit einer Tour in einem motorisierten Hausboot. Das soll angeblich auch ohne Bootsführerschein gehen. Hat ein Kollege mal gemacht, der war total begeistert.“

In meiner Fantasie sehe ich mich bereits nachts die Altkleidercontainer der diversen Hilfsdienste plündern und die Beute auf den Flohmärkten Bremens und Niedersachsens verschachern, als Petra den Vorschlag auf bekannt pragmatische Art plättet:

„Ohne mich, ich will Ruhe und nicht den ganzen Tag, das Tuckern eines Bootsmotors im Ohr haben.“ Das Thema Wasser ist aber nicht mehr aus den Köpfen zu kriegen und zwei Tüten Chips, eine Packung Salzstangen und einem Doppelpack Choco Crossies später, ist der Urlaub, zumindest in der Therorie, eingetütet: Eine Kanutour durch Schweden!

Nach tagelangen Internetrecherchen aller Beteiligten, wird das Bergslagsgarden Kanotcenter in Hällefors zum Basislager erkoren. Nördlich des Vänern gelegen, kann es zwar im allerweitesten Sinne im nördlichsten Teil Südschwedens verortet werden, aber nach einer 13-stündigen Gewaltfahrt, gestartet am späten Abend in Bremen, über Dänemark und nur unterbrochen von kurzen Zwangspausen auf den genutzten Fährverbindungen, hat man bei der Ankunft doch das Gefühl, sich irgendwo im Nirgendwo zu befinden. Ein Blick auf das Display meines Mobiltelefons kann diesen Eindruck nicht relativieren: Kein Netz. Ich bitte Sie diese Feststellung im Hinterkopf zu behalten: Kein Netz!

Der uns zugewiesene Zeltplatz liegt geschützt an der Bucht eines Sees. Dort ist reichlich Betrieb: Kanuwanderer die, wie wir, vor kurzen angekommen sind und auch am nächsten Tag zu ihrer Tour aufbrechen wollen, tauschen sich aus mit gerade Zurückgekommenen. Hier und da ein kleines Lagerfeuer. Kinder und Jugendliche toben fröhlich um die Zelte, der Geruch von Gegrilltem liegt in der Luft und trägt, genau wie das gute Wetter zu allgemeinen guten Laune bei.

Am nächsten Tag bekommen wir unsere Ausrüstung: drei Kanadier, je fünf Meter lang und aus Aluminium, pro Person ein Stechpaddel und eine Schwimmweste, je Boot einen Bootswagen. Außerdem Kartenmaterial, Spaten, Beil, Säge, Pfannen, Töpfe und einen Wasserkanister. Und Tonnen. Kleine runde Tonnen mit einem fest schließenden Deckel, um den Proviant für zehn Tage fern jeglicher Zivilisation, sowie den täglichen Kram, den man immer wieder mal braucht zwischendurch, trocken zu halten. Zusammen mit unseren wasserdicht verpackten Zelten, Schlafsäcken, Isomatten und Klamotten wird das Equipment in einem VW-Bus verstaut, die Boote auf einem Anhänger festgezurrt und los gehts zur Kanueinsetzstelle am Svartälven. Der Name ist Programm: Svart heißt schwarz. Und genauso sieht der Fluss im ersten Moment aus. Aber das Wetter ist gut und so ist es ein freundliches Schwarz. Die Kanadier werden also zu Wasser gelassen, und wir machen uns daran die Ausrüstung auf die Boote zu verteilen. Kein Problem, allerdings sieht es nicht so aus, als würde noch irgendwo Platz sein für zwei Familien mit je vier Personen.

Nach äußerst wackeligen zehn Minuten haben wir alle einen einigermaßen bequemen Platz gefunden und erhalten von unserem Fahrer eine Einweisung in den Umgang mit dem Stechpaddel. Zum Abschied bekommen wir eine Telefonnummer, die wir anrufen sollen, wenn es unterwegs Probleme gibt. Was soll schon sein, was kann in zehn Tagen großartig passieren?

Bis wir endlich ablegen ist es Mittag durch und, von uns zunächst unbemerkt, hat sich die Sonne hinter ein paar Wolken verschanzt. Aber, hey, was soll‘s. Sind wir erfahrene Radwanderer, oder was? Die wird schon wieder rauskommen, die Sonne. Wir sind gut drauf, in der Luft liegt nicht nur der würzige Duft der uns umgebenden Wälder und des Flusses, sondern vor allem ein Hauch von Abenteuer und Lagerfeuerromantik.

Der erste Nieselregen.

Gerade haben wir uns in unsere Schwimmwesten gequält. Wir beschließen, dass es nur ein Schauer ist und trotzen den Naturgewalten.

Der Nieselregen strebt nach Höherem. Echte Regentropfen.

Lächerlich, schließlich kommen wir aus der Norddeutschen Tiefebene, da regnet es gerne auch mal im Sommer.

Der Regen trifft unterwegs einen Kumpel: Wind kräuselt die Wasseroberfläche.

Wir kontern mit wind- und wasserdichten Regenjacken. Die Schwimmwesten werden wieder übergezogen, die Boote wanken, aber sie kentern nicht.

Regen und Wind gehen in Klausur, die Sonne kommt wieder raus.

Lassen wir uns von diesem unentschlossenem Wetter etwa vorschreiben, wann wir was an- oder ausziehen? Sicher nicht. Wir ignorieren die Sonne und fahren weiter. Ein paar Kilometer weiter sind die Jacken innen nass vom Schweiß. Dafür aber trocken von außen. Der Fluss ist in einen See übergegangen, die drei Boote sind nicht mehr so ganz zusammen. Eine Stimme weht über den See: „Ich muss mal.“ Höre ich einen ganz leichten Anflug von Ungeduld in Birgits Stimme? „Wir machen bald Pause, Thorben. Solange musst du noch aushalten.“

Auf einer Insel im See errichten wir unser erstes Nachtlager. Thorben muss immer noch. Der Stamm einer entwurzelten Tanne, außer Sicht des Lagers, fungiert als Donnerbalken. Und hier geben sie sich, wenn auch unfreiwillig, zu erkennen: Die Stadtmenschen. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Nicht im Spalten von Holz oder dem Entfachen einen Lagerfeuers, auf dem man anständig kochen kann; nicht da draußen auf dem See oder dem Fluss beim geübten Umgang mit dem Stechpaddel. Nein, das sind alles handwerkliche Fertigkeiten, die man lernen kann. Echtes Trapperblut fließt nur in den Adern derjenigen, die sich an die Gegebenheiten anpassen und sich unter freiem Himmel, in leichtem Regen, über die Tanne hocken. Und das sind – die Frauen.

Männer laufen den Marathon mit einem gebrochenen Wadenbein.

Männer verteidigen im dichtesten Kugelhagel,  mit einer Schusswunde in der Schulter, ihr sterbendes Pferd.

Männer achten akribisch auf die vorgegebenen Interwalle beim Ölwechsel ihres geliebten Autos.

Männer benutzen zwei Jahre die gleiche Zahnbürste.

ABER

Männer können sich nicht überwinden, in den Wald zu kacken.

Nach einem Bad im See sitzen wir um das wärmende Lagerfeuer und ich spüre, wie sich Seele und Gedärm wieder einpendeln. Falls es möglich ist, dass es dort wo Menschen sind Ruhe gibt, dann hier. Auf dem höchsten Punkt einer kleinen Insel, mitten in einem See, irgendwo in Schweden, herrscht Ruhe und Frieden. Durch die Bäume blitzen die bunten Zeltplanen, auf dem Sand des Seeufers liegen die Kanadier; kopfüber, damit sich das Regenwasser nicht bis zum Morgen darin sammeln kann. Feuchte Kleidung hängt auf einer Wäscheleine, die zwischen zwei Bäumen gespannt ist, und versucht verzweifelt zu trocknen. Die geballte Natur ringsumher lässt die Gespräche leiser klingen, als sie tatsächlich geführt werden. Ich weiß nicht wie es meinen Begleitern geht, aber das erste Mal nach sehr langer Zeit, spüre ich meine Mitte. In den nächsten Tagen werde ich auch erleben, wie es ist, tatsächlich seinen eigenen Gedanken zuzuhören. Erschöpft von den ungewohnten Bewegungsabläufen beim Paddeln und aufgewärmt vom Lagerfeuer, ziehen sich alle früh in die Zelte zurück. Ein leichter Wind lässt die Bäume wispern und rascheln. Das Wiegenlied von Mutter Natur.

Der nächste Morgen hält ein weiteres Highlight bereit: Tee und Instantkaffee mit Seewasser gekocht.

Nach dem Frühstück geht es weiter. Der Himmel bleibt milchigblaugrau verhangen, das Wasser scheint wärmer als die Luft zu sein. Da wir aber mehrmals täglich die Kanus über Staustufen tragen müssen, wird uns nicht kalt. Hin und wieder begegnen wir anderen Kanuwanderern. Einzeln, zu zweit oder in Gruppen. Und bei allen ist die Stimmung gut. Woran liegt das? Sicher nicht am Wetter. Vielleicht an der Tatsache, dass es kaum eine Möglichkeit gibt, etwas dagegen zu tun? Auf einer Fahrradtour ist man geborgen in der Gewissheit, dass es immer eine Alternative gibt. Der Radwanderer orientiert sich an Landstraßen, Wegweisern und ausgewiesenen Radfernwegen. All das fehlt auf dem Wasser. Auch Geschwindigkeit und Zeit spielen keine Rolle mehr. Für ein paar Tage bewegen wir uns im Takt einer Gelassenheit, die tatsächlich von innen heraus entsteht.

Und doch: Wir bleiben schwache, elende Geschöpfe der Stadt. Krüppel ebenjener Zivilisation, die wir doch eigentlich hinter uns lassen wollten. Regen ist unser steter Begleiter und es scheint als gälte des Radfahrers wichtigste Einsicht auch für Kanuwanderer: Der Wind kommt immer von vorn. Die Goretex-Kleidung ist innen so naß wie außen. Es fällt zunehmend schwerer die Ausrüstung trocken zu halten: Zelte die nachts nicht abtrocknen können, werden morgens feucht wieder eingepackt. Schlafsäcke die nicht gelüftet werden können, bleiben klamm. Durchgeschwitzte Kleidung fängt an zu müffeln, weil auch sie nicht trocknen kann. All das drückt dann irgendwann doch auf die Stimmung. Die Lagerfeuerromantik ist dem Willen zum Durchhalten gewichen. Als wir einen befestigten Kanuwanderer-Rastplatz finden, macht sich eine Art grenzdebiler Euphorie breit. Wir stellen fest, dass dieser Rastplatz an eine Motocrossstrecke grenzt und geraten in Ekstase. Muss doch dort, wo Männer und Frauen sich mit lärmenden, stinkenden Enduros durch Sand und Dreck wühlen, Zivilisation sein und somit warmes Essen in erreichbarer Nähe. Denn längst finden wir kein trockenes Holz mehr für ein Feuer. Wir schlagen unser Lager auf und laufen los. Quer über die Piste zur Landstraße. Allerdings ist die Asphaltdecke auch für eine gute Stunde alles was uns daran glauben lässt, nicht allein zu sein in dieser verdammten Einöde. Und so wie der Ausguck im Krähennest eines Seglers vergangener Jahrhunderte, im Dunst des Horizontes langsam Land erkennt, so filtert unser Gehör aus dem Rauschen des Waldes das Rauschen fernen Straßenverkehrs.

Der Wegweiser zu einem Industriegebiet und ein vorbeidonnernder LKW lässt die degenerierten Städter breit grinsen. Eine Imbissbude wird uns zum Sterne-Restaurant, Pizza und Cola zum Manna in der Wüste.

Zurück im Camp gelingt es uns dann doch noch, in einer kleinen, zum Wasser hin offenen, Schutzhütte ein Feuer in Gang zu bringen. Süßigkeiten aus den Vorratstonnen machen die Runde; lesend und Karten spielend wird der Abend einer der gemütlicheren.

Als der nächste Morgen uns wieder mit Regen weckt, macht sich, nicht nur unter unseren Trabanten, ein diskussionsfördernder Unmut breit. Die Erkenntnis kaum noch trockene Kleidung zur Verfügung zu haben trägt ihr Übriges dazu bei, und so wird in der elternüblichen Demokratie beschlossen die Tour abzubrechen, um Erkältungen oder schlimmerem vorzubeugen. Ich krame mein Handy hervor und stelle hocherfreut fest, das zumindest die als „garantiert wasserdicht“ angepriesene Hülle meines Telefons Grund zu Freude gibt: Das Telefon ist trocken und durchaus willig seinen Job zu tun, wenn man es denn ließe. Ich hoffe doch sehr Sie haben meine eindringliche Ermahnung von vorhin nicht vergessen? Genau: Kein Netz. Was nun folgt ist vermutlich jedem Handybesitzer nur allzu bekannt. Ein Ballett der ganz besonderen Art. Mit dem Mobiltelefon in der Hand, den Arm dabei soweit nach oben gereckt, wie es eben noch möglich ist, ohne sich das Schultergelenk auszurenken, den Kopf in den Nacken gelegt auf das über mir schwebende Display peilend, hopse und torkele ich mehr oder weniger grazil durch den Wald. Immer in der idiotischen Hoffnung dieses Dreckstelefon möge gefälligst zumindest einen Balken auf seinem Display offenbaren. Tut es natürlich nicht! Wieso auch?

Wir fahren also weiter, und später am Tage gelingt es tatsächlich, die uns mitgegebene, Nummer anzurufen. Ein interessantes Gespräch übrigens, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:

„Hallo? Bergslagsgarden Kanotcenter. Wer spricht?“

„Ja, hallo. Thomas Bothe hier, bitte holen Sie uns ab. Wir können nicht mehr weiterfahren, unsere Campingausrüstung ist durchgeweicht.“

„…“

„Hallo, sind Sie noch da?“

„Ja, natürlich. Ich war nur so überracht. Ich hatte Sie vollkommen vergessen. Ich fragte mich schon, wo wohl die fehlenden Boote abgeblieben seien.“

„Was soll das heißen: Sie haben uns vergessen?“

„Naja, alle anderen Gruppen, haben sich schon vor zwei Tagen von uns abholen lassen, weil das Wetter so schlecht ist. Sie sind die letzten, die noch da draußen sind. Wie haben Sie es bloß so lange ausgehalten?“

Unsere Laune hebt sich schlagartig. Wir sind eben doch die Härtesten unter der nicht scheinenden Sonne.

Uns wurde ein Treffpunkt angewiesen, der noch eine halbe Tagesreise entfernt den Fluss hinab lag und dann, nach sechseinhalb Tagen, saßen wir wieder in dem VW-Bus, der uns schon an den Anfang der Tour brachte.

Zurück in der Zivilisation ergaben wir uns in eine Orgie des Duschens: Heißes Wasser bis die Kälte auch aus der letzten Faser des Körpers gespült war. Und obwohl die Lagerfeuerromantik soeben durch den Abfluss gejagt worden war, empfinden wir trotz allem Erholung, Ausgeglichenheit, Frieden.

Merke: Camping ist der Zustand, in dem der Mensch seine eigene Verwahrlosung für Erholung hält!