Auf dem Markt

Er stand an dem offenen Fenster und schaute auf den kleinen Stadtteilmarkt, der sich unter ihm ausbreitete. Wenn er den Blick hob, konnte er weit sehen; an besonders klaren Tagen sogar bis zu dem österreichischen Teil der Alpen und die waren immerhin mit dem Auto noch 20 Straßenkilometer weit weg.

Aber auch sonst konnte er aus seinem privaten Adlerhorst den Ort überblicken und allein die Dächer der Altstadt, in der er wohnte, boten in ihrer filigranen, windschiefen Stabilität, hin und wieder unterbrochen von ein paar Baumkronen, einen einigermaßen spektakulären Anblick.  Das Wetter war in diesem Teil des Landes schon seit drei Wochen durchgängig sonnig und warm, fast heiß. Dabei war der Juni gerade mal zwei Wochen alt. Der Himmel war von einem Blau, das einen unweigerlich Adriano Celentanos „Azzurro“ summen ließ, auch wenn man dieses Lied seit Ewigkeiten nicht gehört hätte. Aber natürlich lief es einmal täglich auf dem Radiosender, der den Zusatz „lokal“ noch am ehestens verdient hatte. Nicht weil er überwiegend Nachrichten der Region verbreitet hätte, sondern weil er rein geografisch am dichtesten an diesem Fünfzehntausend-Seelen-Ort lag und einer der wenigen Sender war,  den er  überhaupt klar empfangen konnte. Ganz klassisch über seinen alten Radiowecker, der ihn genauso treu durchs Leben begleitete, wie sein Unvermögen alleine zu sein und sich dabei wohl zu fühlen. Aber vielleicht war das der Grund, warum er den Radiowecker immer noch hatte; sie bedingten einander. Nachdem er diesen Sender gefunden und gespeichert hatte, lief er durchgängig wenn er zu Hause war. Auch nachts. Aber das war neu. Genauso neu wie der Umstand, dass er gezwungen war sich selber auszuhalten. Zu ertragen. Jetzt, wo er alleine lebte. Er grinste humorlos und zuckte mit den nackten Schultern. Was man so leben nannte.

Er drehte sich um, und bemühte sich den Raum so zu sehen, wie ihn ein Besucher sehen würde. Ein ungefähr 25 m² großes, schlauchartiges Zimmer unterm einem schiefergedeckten Dach, welches in den Schränken die Reste seines alten Lebens beherbergte. Aber er hoffte, dass man das nicht sah. Er hatte die Dachgeschosswohnung möbliert gemietet. Von einer Dame Anfang sechzig, die, frisch verwitwet, feststellen musste, dass ihr verstorbener Gatte, nicht nur untreu war, sondern sie auch weitestgehend unversorgt zurückgelassen hatte. Die Möbel waren alt, aber von guter Qualität und sichtbar geschont worden. Als ob sie direkt aus der sprichwörtlichen guten Stube kämen. Verschiedene Stilrichtungen trafen hier aufeinander, die aber immerhin die Farbe Mahagoni gemeinsam hatten. Ihm war es egal. Bett (durch einen Vorhang vom restlichen Zimmer abteilbar), Sofaecke, Stehlampe (mit ausladendem Schirm und Fransen unten dran), Schreibtisch samt Stuhl, ein Beistelltisch mit einem kleinen Fernsehgerät, einen IKEA-Schwingsessel, eine Küchenzeile und jede Menge Kommoden, die bis unter den Beginn der Dachschrägen reichten, die sowohl zur Straße als auch zum Garten hin vorhanden waren. Unterbrochen jeweils durch zwei kleine Gauben. Das hereinfallende Sonnenlicht sorgte im Sommer für ausreichende Helligkeit. Da er erst vor drei Monaten eingezogen war, hatte er keine Ahnung wie sich seine Wohnung im Winter präsentieren würde. Vermutlich in einem dauerhaften Zwielicht. Falls er dann noch hier wohnte. Er machte keine weitreichenden Pläne mehr. Sein Plan vom Leben war ihm gerade erst um die Ohren geflogen…

Was er sich selbst als Karrieresprung verkauft hatte, erwies sich schon während der Probezeit, als riesiger Irrtum.  Er ahnte, dass er dem Stress nicht gewachsen sein würde, das Tempo nicht würde mitgehen können. Aber der Job war gut bezahlt und im Vergleich zu seiner alten Arbeitsstelle sogar mit dem Fahrrad erreichbar, so dass auch noch das Spritgeld eingespart werden konnte. Kurz, das Einkommen stieg mal eben um mehr als dreißig Prozent. Dafür mussten Piloten ganz schön lange streiken. Eine Frau, zwei pubertierende Töchter, die auch noch eine Privatschule besuchten, ein Haus, zwei PKW, vier Handy-Verträge und ein Pferd mussten schließlich finanziert werden.  Außerdem glaubte er es sich selbst noch einmal beweisen zu müssen. Und so gab er gute drei Jahre lang den Hamster im Rad und spürte doch täglich, wie sein Boss und die sogenannten Kollegen ihm die Energie abzogen. Nachdem er immer häufiger kurze Phasen des Unwohlseins in Form von Kopf- und Magenschmerzen, und dadurch bedingt tageweise Krankheit durchgemacht hatte, brach er dann eines Morgens beim Frühstück in sich zusammen, um fortan mehr oder weniger teilnahmslos seinen Job zu machen so gut es eben ging. Aber es ging eben nicht mehr und als er dann endlich einen Arzt aufsuchte, ging der Rest ziemlich schnell. Der Arzt überzeugte ihn, eine psychosomatische Reha zu beantragen. Als er seinem Chef Bescheid sagte, überreichte der ihm einige Tage später kurz und knackig die Kündigung. Merkwürdigerweise ging es seitdem wieder mit ihm bergauf. Wenn auch langsam, so fühlte er sich doch von Woche zu Woche besser und als er zur Reha aufbrach, hatte er schon wieder einen Seelenzustand erreicht, der es ihm erlaubte mit seinem Anwalt per Email und Telefon die Kündigungsschutzklage anzugehen.

Zurück bei seiner Familie, und in Verbindung mit der Therapie die er nach der Kur begonnen hatte, erholte er sich immer schneller. Einziges Manko: Er fand in seinem Alter nicht mal eben wieder einen neuen Job. Zumal er sich weigerte, sich auf Stellen zu bewerben, die genau die gleiche Seuche in einer anderen Verpackung versprachen. Es reichte völlig die Büchse der Pandora einmal aufgemacht zu haben. Nicht für Geld und gute Worte würde er sich so einen Job ein zweites Mal ans Bein binden. Aber je länger er zu Hause war und sie vom Arbeitslosengeld leben mussten, desto angespannter wurde das Verhältnis zwischen ihm und Heike. Sie beklagte sich zwar noch nicht laut, aber die Spitzen, die sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit in seine Richtung abschoss, sprachen eine deutliche Sprache.

Als er schließlich Heikes geliebtes kleines Cabrio verkaufte, und kurz darauf auch noch das Pferd, eskalierte die häusliche Situation endgültig. Sie hatten sich schon des Öfteren gestritten, so wie es vermutlich in jeder Ehe vorkam, aber was nun folgte war nicht von dieser Welt. Heike scheute sich nicht verbale Attacken wie „Versager“ oder „ich hätte auf meine Mutter hören sollen“ gegen ihn zu reiten. Sprüche wie sie in jedem zweit- oder drittklassigen Beziehungsdrama zu hören waren. Und doch gehörten sie noch zu den harmloseren Einlässen seiner verwöhnten Gattin. Er musste sich ein breites Grinsen verbeißen, denn jetzt kam tatsächlich das, von dem seine Therapeutin schon zwischen den Zeilen angedeutet hatte, womit er rechnen müsste. Und weil die Mädchen ohnehin offen Partei für ihre Mutter ergriffen, bekam Stephan kaum einen Stich. Nachdem die Fronten nun geklärt waren, zog er kurzerhand ins Gästezimmer und hoffte darauf, dass die Wogen sich wieder glätteten. Stattdessen wurde ihm von Heike eröffnet, wie sehr sie es begrüßen würde, wenn er sich eine eigene Wohnung nähme. Eine Trennung, vorläufig auf Probe, wäre in ihren Augen die einzige Möglichkeit, um einer sofort einzureichenden Scheidung entgegenzuwirken. Wie förmlich sie sich ihm gegenüber plötzlich verhielt. Er wusste es zu deuten, es war ihr Weg einzuräumen, dass sie den Streit bedauerte. Gleichzeitig gab sie ihm zu verstehen, dass sie von ihrer Meinung nicht abweichen würde. Zwei Tage später packte er zwei Reisetaschen mit dem Nötigsten, hinterließ eine Nachricht auf dem Esszimmertisch und brach auf Richtung Bahnhof. Um nicht nur einen seelischen, sondern auch einen ausreichend räumlichen Abstand zu gewinnen, kaufte er sich eine Fahrkarte  nach Süden, nach Bayern.  In Füssen, stieg er aus dem Zug und suchte die Tourist-Information auf um sich erst einmal ein Hotelzimmer für die ersten Nächte und einen Stadtplan zur Orientierung zu besorgen. Er kannte den Ort noch von einem Urlaub aus der jüngeren Vergangenheit und verband positive Erinnerungen mit der Stadt. Am nächsten Morgen suchte er das Bürgerbüro im Rathaus auf, um alle Formalitäten zu erledigen, welche nötig sind, um sich in einem fremden Ort niederzulassen und ein neues Leben zu beginnen. Während er in der Schlange wartete bis er an die Reihe kam, ergab sich ein Gespräch mit einem einheimischen Bäckermeister, der wegen eines Bauantrages anstand und natürlich kam das Gespräch über seinen norddeutschen Dialekt auf den Grund des Umzuges. Der Bäckermeister gab ihm die Adresse von Adele Angeringer, einer Witwe die, so der Bäcker „unverschuldet in Not geraten war“ und eine kleine Dachgeschosswohnung zu vermieten hatte. Ohne weitere Umstände verließ er seinen Platz in der Schlange und suchte die Witwe Angeringer auf. Die Adresse erwies sich als ein zweigeschossiges, gut erhaltenes Fachwerkhaus an einem kleinen Marktplatz am Rande der Altstadt.

Eine attraktive, sportliche Frau die er auf Anfang fünfzig schätzte, öffnete ihm Tür und führte ihn, nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte nach oben, um ihm einen tiefen Blick in das Objekt der Begierde zu gewähren. Nach dem Austausch der üblichen Floskeln, die seinerseits den Mietpreis drücken sollten, ihrerseits zu suggerieren versuchten, dass der Preis gerechtfertigt sei, bat sie ihn in einen kleinen kontrolliert-verwilderten Garten, der, obwohl es erst Anfang März war, erahnen ließ, dass er im Sommer einladend und gemütlich sein würde. Die spätwinterliche Sonne beschien eine kleine Sitzecke und wenn man die Jacke anbehielt, konnte man durchaus schon ein paar Minuten draußen sitzen.

Bei einer Kanne Darjeeling und hausgemachtem Gebäck wurde man sich erstaunlich flott handelseinig. Stephan würde die Wohnung renovieren und solange im Gästezimmer schlafen. Adele würde das Material bezahlen.  Stephan würde allgemeine Hausmeistertätigkeiten übernehmen, Adele würde ihm bei der Miete entgegenkommen. Nachdem er seine Sachen vom Hotel in Adeles Gästezimmer geschafft hatte, planten sie bei einem gemeinsamen Abendessen die Renovierung seiner neuen Bleibe.

Sein Mobiltelefon meldete sich genau in dem Augenblick, als er vom Fenster zurücktrat. Er ging zu Schreibtisch und schaute aufs Display. Heike.