Blut…überall Blut

Die Sonne scheint warm durch das große Bürofenster und trifft unmittelbar auf eine weiße Aluminiumjalousie, welche die Strahlen wie mit einer rasiermesserscharfen Klinge gleichsam filetiert. Theo sitzt am Schreibtisch und kämpft auf verlorenem Posten gegen drei Gegner: die Wärme, den Schlaf und die Lichtverhältnisse. Alle zusammen verhindern recht erfolgreich, dass er den LKW-Frachtbrief mit der gebotenen Konzentration und Geschwindigkeit schreiben und ausdrucken kann. Der Spätsommernachmittag hat zwar gerade erst begonnen, aber nichts deutet daraufhin, dass er sich anders darstellen würde, als die Nachmittage gestern, vorgestern und vorvorgestern oder überhaupt irgendein Nachmittag in den letzten anderthalb Wochen. Ich brauche Schlaf, viel Schlaf, konstatiert Theo in Gedanken. Nicht, dass es ihm an Gelegenheiten mangeln würde. Von den Überstunden im Büro abgesehen, führte er das Leben eines Hobbits: pünktlich, solide und unaufgeregt. Und doch war da diese innere Unruhe, die jede Entspannung, jede Gedankenpause, jeden gemütlichen Kneipenabend mit seinen alten Freunden ad absurdum führte. Seine Gedanken rasten im Kreis, jede Faser seines Körpers vibrierte vor Spannung. Hätte man im die Fassung eine Glühbirne in die Hand gedrückt, er hätte sie zum Leuchten gebracht. Fuhr er morgens ins Büro, raste er in halsbrecherischem Tempo durch die Stadt, um so schnell wie möglich an seinen Schreibtisch zu kommen und damit in die unmittelbare Nähe seines Telefons. Wenn er aber endlich am Schreibtisch saß, fürchtete er nichts so sehr, wie das Klingeln. Jedes Mal wenn der Apparat läutete, zuckte er zusammen und schielte voller Angst auf das Display. Er hasste das Telefon und doch, er war ein Nichts ohne es. Theo wartet. Theo wartet auf den einen Anruf. Theo fürchtet sich. Theo fürchtet sich vor dem einen Anruf.

Und dann spürt er das Klingeln, noch bevor er es hört. Und darum sieht er auch die Nummer auf dem Display, noch bevor sie tatsächlich aufleuchtet. Ihm wird kalt. Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Die Hand, die sich zum sich zum Telefon reckt, zittert. Gelähmt und unfähig sich zu melden, drückt er sich den Hörer ans Ohr. „Jetzt“, sagt eine gepresste Stimme. Er legt auf. Und auf einmal ist da eine tiefe Ruhe. Er betrachtet seinen Schreibtisch mit den Augen eines Fremden und nichts darauf ist noch wichtig. Nichts mehr von Belang. Er fährt den Computer herunter, sortiert die Akten und bringt sie seinem Kollegen am Schreibtisch gegenüber. Michael blickt ihn fragend an und Theo nickt: „Der Anruf…“ Seine Stimme versickert irgendwo knapp vor ihm im Bodenbelag. Michael nimmt die Akten an sich und versichert ihm: „Ich kümmere mich darum, mach dir keine Sorgen. Irgendwas Besonderes?“ „Nein, alles wie besprochen. Bis bald.“ „Melde dich“, ruft Michael noch, ist sich aber nicht sicher, ob Theo ihn überhaupt gehört hat.

Im Auto weicht die Ruhe einem Zustand höchster Konzentration. Ab jetzt zählt jede Minute. Theo peitscht seinen Kleinwagen über die Schnellstraße, überholt dabei links und rechts was ihm im Wege ist, bremst vor einem fest installierten Blitzer auf die erlaubt Geschwindigkeit herunter, nur um sofort danach wieder aufs Gas zu gehen. Noch immer ein Auge auf den Verkehr vor ihm, ein Auge im Rückspiegel, und die Ohren auf Polizeisirenen lauschend, kommt er schleudernd und mit quietschenden Reifen vor seinem Haus zum Stehen. Er stürmt hinein und folgt den Stimmen. Im Wohnzimmer kommt er abrupt zum Stillstand. Er sieht Paula, einigermaßen entspannt, auf dem Sofa sitzen, wie sie sich eine Folge „Star Trek – Next Generation“ ansieht. Captain Picard spricht zu einer entfernt humanoid aussehenden Kreatur mit schuppiger, ungesunder Hautfarbe und zwei flatternden Luftschlitzen, wo üblicherweise die Nase zu erwarten gewesen wäre. Neben Paula auf dem Sofa, eindeutig nicht entspannt, sitzt ihre Tante Helene, Hebamme von Beruf, und redet unaufhörlich auf seine Frau ein. Als sie Theo wahrnimmt, springt sie auf, wedelt mit dem Armen und macht ihm klar, dass die Fruchtblase vor einer Stunde geplatzt ist, es höchste Zeit wäre ins Krankenhaus zu fahren, und dass er gefälligst seine Frau zur Vernunft bringen solle, die meint, unbedingt diese Sendung zu Ende sehen zu müssen. Paula krümmt sich unterdessen unter einer Wehe und stellt klar, auf keinen Fall das Haus zu verlassen, bevor sie nicht wüsste, ob Counselor Deanna Troi wohlbehalten an Bord der Enterprise zurückkehren würde. „Selbstverständlich wird ihr nichts passieren, das weißt du doch. Jean-Luc regelt das.“ „Und wenn es eine Doppelfolge ist?“, faucht Paula, „die Folge habe ich noch nicht gesehen.“ Theo spürt ein leichtes Pochen hinter der Stirn. Er drückt Tante Hebamme zurück auf das Sofa, setzt sich in einen Sessel und wartet. „Wenn es ein Junge wird, könnten wir ihn Jean-Luc nennen“, versucht Theo die Situation aufzulockern. Paula würdigt ihn keines Blickes, Tantchen guckt etwas irritiert und bricht gleich wieder in Panik aus:

„Habt ihr etwa noch keinen Namen? Das kann doch wohl nicht wahr sein. Stellt euch vor, es passiert etwas und ihr müsst das Kind nottaufen lassen. Dann könnt ihr doch nicht erst nach einem Namen suchen!“ Paula knurrt: „Wie oft hast du das in deinem Beruf schon erlebt? Wir HABEN einen Namen.“ Sprichts, keucht auf und beschließt, doch schon mal ins Krankenhaus zu fahren. Etwas unbeholfen watschelt sie Richtung Haustür. „Vergiss die Skatkarten nicht“, weißt sie ihren Mann an und greift sich die, seit zwei Wochen fertig gepackte, neben der Tür stehende, Krankenhaustasche.

Nachdem Theo die Tasche im Kofferraum deponiert, die Tante auf dem Rücksitz platziert und Paula auf den Beifahrersitz bugsiert hat, schwingt er sich hinters Steuer, rammt den Schlüssel ins Zündschloss und – stellt fest, dass er vergessen hat zu tanken. Er ist mit dem letzten Rest Benzin so gerade noch ins Büro und wieder zurück gekommen. Soll er es riskieren und losfahren? Vor seinem inneren Auge sieht er, wie der Wagen auf der Schnellstraße anfängt zu ruckeln und zu stottern. Mit einem letzten Schnaufen stirbt der Motor an Spritmangel. Theo hat nicht mal ein Warndreieck an Bord. Die Presswehen setzen ein und Tante Helene holt das Baby auf der Überholspur, während sich der Verkehr hinter dem Wagen staut und die anderen Verkehrsteilnehmer laut hupend an ihnen vorbeiziehen. Aus ihrer Handtasche holt Helene eine Rolle Garn, bindet die Nabelschnur ab und fordert Theo auf selbige durchzuschneiden. Aber womit? Die Schere im Verbandskasten ist rostig und stumpf, ein Taschenmesser besitzt er nicht. Theo beugt sich über das Baby und beginnt die Nabelschnur mit den Zähnen durchzubeißen…

„Wir haben keinen Sprit mehr, wir müssen deinen Wagen nehmen“, ruft Theo und rennt zur Beifahrerseite, um seiner Frau wieder auf die Füße zu helfen. Er sprintet zurück zum Haus, um die anderen Wagenschlüssel zu holen. Helene bahnt sich einen Weg von der Rückbank zurück ins Freie. „Also ganz im Ernst, dann hätte ich auch noch Enterprise zu Ende gucken können“, räsoniert Paula vor sich hin, während sie sich den Rücken haltend, zu ihrem Fahrzeug schleppt. Tante Helene wackelt im stummen Entsetzen mit dem Kopf.

Nachdem die Kleinwagenbefrachtung ein zweites Mal erfolgreich vollzogen ist, könnte es endlich losgehen, allerdings stellt Theo fest, dass auch der Tank von Paulas Wagen leer ist bis zum Rand. Vorsichtig wagt er, die Herbeirufung eines Taxis zu erwägen. Aber jetzt reicht es Helene: „Wenn du nicht sofort losfährst, mach ich davon eine Hausgeburt, und zwar auf deinem verdammten Billardtisch!“ Theo hat einen Billardtisch im Wohnzimmer, frisch renoviert. Also dreht er den Zündschlüssel und schießt mit durchdrehenden Reifen aus der Parklücke. Natürlich kommen sie wohlbehalten an, trotz Theos unausgeglichener Verfassung. Der Treibstoff hat gereicht, und eine Parklücke in unmittelbarer Nähe des Krankenhaushaupteingangs sorgt dafür, dass sich, zumindest bei Tante Helene und Theo der Puls wieder in unbedenklichen Regionen aufhält. Taktisch klug, bewältigt Paula direkt vor der Loge der Anmeldung eine weitere Wehe, sodass der Pförtner sie sofort durchwinkt. Während Helene ihre Nichte zu Entbindungsstation bringt, erledigt Theo den Check-in.

Nach Erledigung aller Formalitäten hat der Portier noch ein paar aufmunternde Worten für Theo: „Entspannen Sie sich, es ist noch kein Kind drinnen geblieben. Es hört sich zwar so an, als ob es die Frauen in der Mitte zerreißen täte, hähähä, und es sieht auch so aus, aber eigentlich ist das ja alles Routine. Und man muss da ja nicht hingucken.“ Hier knufft er Theo vertraulich mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Die Frau weiß, was sie wann machen muss. Das sind noch die Urinstinkte des Affen. Ich habe das mal in einer Fernsehdoku gesehen, auf RTL 2. Junger Mann, was ist los? Ist Ihnen nicht gut?“

Durch Theos Adern pumpt schwer das Blut, der Puls hämmert in seinen Ohren und rote Nebel wabern vor seinem Gesicht. Nur der Wunsch endlich wieder zu seiner Frau zu kommen, ist noch dringlicher als der, diesem hirnloser Einzeller von einem Portier, mit der Tastatur seines eigenen Computers den, Schädel zu spalten.

Endlich auf der Entbindungsstation angekommen, erklärt der diensthabende Arzt Paula soeben, dass sie eigentlich nochmal nach Hause fahren könnten, vor morgen früh käme das Kind nicht. Und jetzt zeigen sich zum ersten Mal die berühmt-berüchtigten Mutterinstinkte. Jene Urtriebe, die es einer Mutter ermöglichen, mit der einen Hand den Säugling zu halten, mit der zweiten die Wäsche aufzuhängen und, bei Bedarf, mit der dritten Hand einen Stationsarzt auszuweiden, der eine werdende Mutter mit Wehen im 8-Minutentakt, wieder nach Hause schicken will. Mit der freundlichen Diplomatie einer angeschossenen Löwin, erläutert Paula diesem Unglücklichen sehr detailliert, was sie von seinem Vorschlag hält. Totenbleich sucht Äskulaps Jünger das Weite und verflucht den Tag seiner Berufswahl. Theo erwägt, Paula von dem Portier zu erzählen, nur so, zu seinem persönlichen Vergnügen. Aber zum Vergnügen sind sie schließlich nicht hier und so bringt er die Mutter seiner demnächst geborenen Tochter in das ihnen zugewiesene Zimmer. Dort gelüstet es ihr nach ein paar Runden Bauernskat, und sie fordert Theo auf die Spielkarten aus der Tasche zu holen. Mit einem gezielten Griff ins Seitenfach der Reisetasche fördert er ein Paket Papiertaschentücher zu Tage. Falsche Seite. Aus dem anderen Fach zieht er zwei Schokoriegel.

„Hmm, Schatz, sage mal weißt DU vielleicht, wo …?“

„Ich habe dir beim Losfahren gesagt, dass du die Karten einpacken sollst. Woher soll ICH also wissen, wo DU die Karten hingetan hast?“

„Dann habe ich sie wohl auf dem Wohnzimmertisch liegengelassen. Und jetzt?“

„Und jetzt fährst du nach Hause und holst sie. Scheint ja so als hätten wir noch ausreichend Zeit. Dann kannst du auch gleich tanken fahren.“

„Ja, Schatz.“

Eine Stunde später ist Theo wieder im Krankenhaus, mit Karten, die er zwar nicht auf dem Wohnzimmertisch, dafür aber im Tankstellenshop gefunden hat.

Der Nachmittag geht in den Abend über und wird mit Karten spielen, Spaziergängen auf dem Krankenhausflur und weg atmen der Wehen rumgebracht. Die Nervosität der angehenden Eltern steigt proportional zum geringer werdenden Abstand der Wehen. Nur Vollprofi Tante Helene, freiberufliche Hebamme, ist die Ruhe selbst. Hier gibt es keinen Raumschiffkapitän der ihre Autorität in Frage stellt, hier ist sie der Boss. Und in diesem Krankenhaus ganz besonders. Hat sie doch hier einen Großteil ihres Berufslebens zugebracht. Hin und wieder bestastet sie Paulas Bauch, drückt hier, fühlt da und murmelt dabei entrückt vor sich hin. Und wieder hat Theo eine Vision: Vor seinem inneren Auge materialisiert sich eine Kohlenpfanne im Zimmer, die Kohlen glühen und ein scharfer Kräutergeruch senkt sich auf das Zimmer herab. Er sieht, wie Helene etwas auf die Kohlen wirft, meckernd lacht und mit den Händen undeutliche Bewegungen im aufsteigenden Rauch vollzieht. Der Rabe auf ihrer Schulter breitet seine Schwingen aus, zieht eine Kreisbahn über ihren Köpfen und entschwebt durch das offene Fenster. Vielleicht hätte er die Passage über die Hexen in Shakespeares Macbeth doch nicht gestern Abend direkt vor dem Einschlafen lesen sollen, wo er doch auch so schon nervlich am Stock geht.

Irgendjemand versetzt Theo einen Klaps auf die Wange: „Sag mal, schläfst du?“, fragt Helene. „Es ist soweit, los geht’s. Los, hilf deiner Frau aus dem Bett.“

Paula läuft der Schweiß über das schmerzverzerrte Gesicht. Sogar Theo ist klar, dass seine Tochter auf die Zielgerade einbiegt. Soviel zum Thema, das Kind kommt erst morgen früh. Er blickt auf die Uhr: 21:10 h. Verdammt, wie lange war er weg?

„Na, Süßer, wieder wach?“ Tapfer lacht Paula ihren Mann an und stützt sich schwer auf ihn. Helene ist vorausgeeilt, um den Schwestern Bescheid zu sagen und so wartet ein ganzes Geschwader an Pflegepersonal auf sie, als sie endlich den Kreißsaal erreichen. Nett, so ein Status als Privatpatient und einer Verwandten, die trotz Pensionierung noch einen Namen in diesen Kreis hat.

Und jetzt verbreitet sich ein geschäftige, aber einstudierte und Geborgenheit vermittelnde Betriebsamkeit. Unterwassergeburt, Gebärstuhl und was es an Erleichterungen auch alles geben mag, egal. Keine Experimente, wusste schon der olle Adenauer und so wird Paula wieder in die Horizontale gebracht. Theo steht neben ihrem Kopf, lässt sich von ihr klaglos die Knochen seiner rechten Hand zerbröseln und tupft ihr mit der linken den Schweiß von der Stirn. Woher er das Tuch dazu hat, kann er nicht sagen. Mehr hat er nicht zu tun. Da Kreißsäle unabhängig von der Jahreszeit immer gut geheizt sind, bricht auch ihm bald das Wasser aus dem Körper, und das Tuch trocknet neben Paulas, nun auch Theos Stirn. Wieder hat er Nebel vor den Augen, aber diesmal ist er nicht rot, sondern mehr wie der Weichzeichner bei Kitschfilmen. Theo überlegt, ob er noch irgendwas tun kann, um es seiner Frau leichter zu machen, die sich neben ihm in immer kürzeren Intervallen aufbäumt und Laute ausstößt, die er höchstens mal in zweitklassigen Horrorfilmen gehört hat. Plötzlich kommt ihm der Geburtsvorbereitungskurs in den Sinn. Er lag auf einer Matte auf dem Fußboden und sollte eine Presswehe simulieren. Was für ein Quatsch. War es damals, ist es heute auch noch. Aber was die Kursleiterin, eine gewisse Gisela und auch so ein Profi in Sachen prä- und postnataler Betreuung, ihm erzählt hat, das könnte klappen. Also geht er neben Paulas Kopf in die Hocke und feuert sie an: „Ja, gut machst du das. Ganz klasse. Du schaffst das. Du musst den Schmerz willkommen heißen und in ihn hinein atmen. Der Schmerz ist dein Freund. Er sagt dir, dass du es bald geschafft hast.“

Mit blutunterlaufenen Augen stiert sie ihn wild an: „Halt‘ die Fresse, du Arsch.“ Sie widmet sich wieder dem Geschäft des Gebärens.

Und jetzt ist auch der Nebel weg. Theo blickt sich im Kreißsaal um, als würde er erst jetzt alles bewusst wahrnehmen. Seine rechte Hand tut weh, eigentlich kann da kein Knochen mehr ganz sein. Aber was ist das schon, gegen das, was sich da vor seinen Augen abspielt. Tante Helene gibt jetzt den Takt vor. Paulas presst und entspannt, presst und entspannt. Theo möchte eingreifen, möchte seiner Frau und seiner Tochter eine Pause gönnen, Ruhe. Aber natürlich geht das nicht. Aber bei Gott, wenn seiner Frau was passiert, wenn seinem Kind was passiert, wird er diese Hebamme als Hexe anklagen und dafür sorgen, dass sie auf dem Scheiterhaufen endet. Und wieder streicht der schwarze Rabe durch den Raum.

„Jetzt! Gleich ist es da! Ich kann den Kopf sehen! Noch einmal, zweimal pressen, dann hast du es überstanden!“ Jetzt schwitzt auch Helene. Theo tritt einen Schritt Richtung Fußende und riskiert einen Blick. Fehler! Fehler! Fehler! Alarmstufe Rot! Meine Frau zerreißt von innen heraus! Hat dieser verdammte Portier etwa doch recht? Was ist das Rote da?

„Los jetzt, einmal noch! Komm! Komm schon!“

Und dann ist es vorbei. Mit einem leisen Rutschen gleitet ihre Tochter in die offenen, haltenden Hände Helenes. Paulas Kopf sinkt erschöpft zurück. Die Krankenhaushebamme platziert mit geübten Griffen die Nabelklemmen und fragt Theo, ob er die Nabelschnur durchtrennen will. „Nein!“ wehrt er panisch ab und erinnert sich an seine Vision vom frühen Nachmittag. „Prima“, freut sich sie Hebamme und drückt ihm eine Schere in die Hand. Zitternd nähert sich seine Hand der Nabelschnur. Das ist verkehrt, ruft es in seinem Bauch, seinem Herzen, seinem Kopf. Da darf man nicht rein schneiden, das lebt doch. Sie werden verbluten. Erst sein Kind, dann seine Frau. Die Nabelschnur hält die beiden zusammen, in ihr ist Leben. Die spiralförmige Verbindung zwischen Mutter und Kind, erscheint Theo wie der Hort allen Lebens. Er wird sich nicht dafür hergeben die Lebensader zu kappen. Niemals! Und dann klingt es wie das Reißen eines Bettlaken oder eines Tischtuchs, als die Schere ihre Arbeit tut. Mit einem leichten Puls sickert Blut aus dem Schnitt. „Es ist ein Junge“, hört Theo eine Stimme. Jemand führt ihn zu einem großen Waschbecken mit warmen Wasser, drückt ihm seinen Sohn in den Arm und fordert ihn auf, das Kind von Blut, Schleim und dieser weißlichen Schmiere zu reinigen, mit der alle Kinder nach der Geburt überzogen sind. Darauf ist er vorbereitet, das hat er geübt. Er ist zurück in seinem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum und hat einen Job zu erledigen. Endlich ist sein Sohn gewaschen, trocken und warm verpackt und bereit seine erste Mahlzeit zu sich zunehmen.

Das Kind ist gesund und munter und somit besteht keine Notwendigkeit einer Nottaufe. Da der Kreißsaal für die nächste Geburt vorbereitet werden muss, hat man Paula, Theo und ihren Trabanten in ein anderes Zimmer verfrachtet.

„Tja, doch keine Tochter“, seufzt Theo.

„Hätte mich auch schwer gewundert. Und jetzt?“, fragt Paula und ihre Augen blitzen herausfordernd.

„Vielleicht doch Jean-Luc?“

„Blödmann.“

Aber Paula hat recht. Natürlich hatten sie schon lange einen Namen, auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass Theos Tochter doch ein Junge werden sollte. Theo ist zufrieden. Denn eben beim nächsten Mal denkt er, und grinst vergnügt auf seine kleine Familie herab.

Paula sieht ihn an, stöhnt in gespieltem Entsetzen auf und jagt ihn zum nächsten Telefon, um die Verwandtschaft zu informieren.