Blut… überall Blut, II

Theo sackt schwer gegen den Rahmen der Haustür. Mit zittrigen Fingern sucht er in den Taschen seiner Jacke nach dem Hausschlüssel. Der Schweiß rinnt ihm in Strömen über das Gesicht. Die Augen funkeln in ungesundem Glanz. Endlich hat er das Schlüsselbund in der Hand. Mit beiden Händen den Schlüssel zu seinem Haus umklammernd, um das Zittern auszugleichen, versucht er den Zylinder des Sicherheitsschlosses zu treffen. Keine Schwäche zeigen, nur nicht klingeln. Jage sie in ihrem Zustand bloß nicht hoch. Die Tür schwingt auf und Theo taumelt in den Flur. Seine Tasche poltert zu Boden, die Jacke rutscht von den Schultern und gesellt sich zu der Tasche. Er tastet sich an der Dielenwand entlang Richtung Wohnzimmer, von wo er Stimmen vernimmt. Dieses Mal nicht Jean-Luc Picards, sondern die von Captain James Tiberius Kirk und seinem Ersten Offizier Mr. Spock. Theo versucht sich zusammenzureißen und betritt den Raum.

Als er Paula da sitzen sieht, fühlt er eine große Erleichterung. Es geht ihr ganz offensichtlich gut. Erschöpft fällt er neben seiner Frau aufs Sofa. Paula schaut ihn an und konstatiert:

„Du hast Fieber. Und zwar nicht zu knapp. Moment mal, ich hole das Thermometer.“

Ein paar Minuten später starrt Paul auf die Anzeige: 40,2° Kein Wunder, dass die Fahrbahn eben so merkwürdig gewellt war.

„Warum bist nicht früher aus dem Büro gekommen? So konntest du doch sowieso nicht arbeiten?!“

„Du weißt genau, was momentan los ist. Wie war es beim Arzt?“

„Alles gut. Bis zum Wochenende ist das Kind da.“

„Verdammt. Aber bitte nicht heute Nacht, ich bin total am Ende.“

„Genau, du gehst jetzt ins Bett.“

18:30 h: Theo streckt sich auf der Matratze aus und ist sofort eingeschlafen.

00:30 h: Paula rüttelt Theo wach und teilt ihm mit, dass es nun soweit sei, er solle   seine Eltern anrufen, damit sie Justus, ihren Erstgeborenen, abholen.

Theo quält sich aus dem Bett und wankt zum Telefon. Bereits nach dem zweiten läuten ist sein Vater dran.

„Es geht los. Benutzt den Schlüssel, damit Just nicht aufwacht.“ – „OK, bis gleich.“

Nur Augenblicke später, wie es scheint, materialisieren seine Eltern im Kinderzimmer und nehmen vorsichtig Justus, sowie seine Decke und wichtigsten Kuscheltiere aus dem Kinderbett und verschwinden so plötzlich wie sie erschienen sind. Theo nimmt das alles nur durch einen Filter aus Weichzeichner wahr, sein Blickfeld ist an den Rändern seltsam zerfasert. Er klemmt sich Paula unter den Arm und führt seine hochschwangere Krankenhaustasche behutsam zum Auto.

Beim Krankenhaus angekommen ist seine Wahrnehmung immerhin soweit wieder hergestellt, dass er zum einen in der Lage die Anmeldung beim Pförtner zu erledigen (der ihm schon wieder auf diese plump-kumpelhafte Weise erklären will, dass 1. noch kein Kind dringeblieben und dass es 2. völlig normal sei dabei knöcheltief im Blut der entbindenden Mutter zu waten), und sich zum anderen zu fragen, wie er eigentlich hierhergekommen ist, denn an die Fahrt selbst erinnert er sich nicht. Wer ist eigentlich gefahren?

Paula krümmt sich mittlerweile unter ständigen Wehen, und selbst diese Amöbe von einem Portier erkennt die Dringlichkeit. Mit der Routine vieler Jahre zitiert er ein paar Weißkittel heran, die Paula und Theo auch gleich bis zum Kreißsaal eskortieren. Dort wartet man schon in konzentrierter Gelassenheit.

Diese Geburt geht ohne Tante Helene über die Bühne, aber die Versorgung ist darum nicht weniger erstklassig. Tante Helene muss einen Ruf wie Donnerhall in dieser Klinik haben. Chefarzt-Service.

02:30 h: Theo durchtrennt die Nabelschnur und es klingt kein bisschen weniger dramatisch als beim ersten Mal, als die Schere ihre Arbeit aufnimmt.

Rekordverdächtige zwei Stunden von der ersten Wehe bis zur Entbindung. Theo löst sich in der Hitze des Kreißsaals und seinen 40° Fieber in Schweiß und Wohlgefallen auf. Nebenbei registriert er, dass es abermals ein Junge ist und dass er irgendwie zerknittert aussieht. Also wieder nichts mit Johanna. Dann eben Plan B: Jokanaan. Wie er aber ins benachbarte Familienzimmer gekommen ist, bleibt genauso ein Rätsel, wie der Weg nach Hause. Zurück ins Bett um 04:30 h.

Er erwacht von leichten Schlägen auf seine Wangen. Über ihm schwebt ein gewaltiger, rabenschwarzer Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Bart. Dahinter ein Gesicht, das ihm komplett unbekannt ist.

„Er kommt zu sich“, sagt der Bart zu irgendjemandem hinter ihm, den Theo nicht sehen kann, „er hat sehr hohes Fieber.“ Er glaubt aber die Stimme seiner Mutter zu erkennen, als dem Bart jemand antwortet. Die Hände des Bartes geben ihm eine Tablette in der Größe eines Rugbyballes und flößen ihm Wasser ein. Dann wieder gnädige Dunkelheit.

Am nächsten Morgen wacht Theo auf und liegt lange still im Bett. Stück für Stück geht er durch was alles passiert ist, seit er am Donnerstagabend krank nach Hause gekommen ist. ERST IST ZUM ZWEITEN MAL VATER GEWORDEN! Mit einem Satz ist er aus dem Bett… und findet sich platt auf dem Teppichboden wieder. Ach ja, Kreislauf. Da war doch noch was. Theo arbeitet sich wieder hoch und auf dem Bettrand hockend wartet er darauf, dass dieses dämliche Schlafzimmer aufhört sich zu drehen. Während er wartet, schmeißt er sich ein paar von den Tabletten ein, die er auf seinem Nachttisch gefunden hat, und von denen er nur eine undeutliche Erinnerung hat, wie sie dahin gekommen sind. Endlich ist er geduscht und angezogen. Schnell was essen und dann ins Krankenhaus.

Sein Sohn schläft und hat sich einigermaßen die Falten rausgebügelt. Paula hat die Zeit im Krankenhaus offenbar auch gut genutzt und sieht ziemlich erholt aus. Sie hat auch wieder dieses Herausfordernde im Blick, das so typisch für sie ist und das im Regelfall einer Idee vorausgeht, die Theo erstmal gründlich überschlafen muss, nur um hinterher zu der Erkenntnis zu kommen, dass er auch gleich hätte „ja“ sagen können.

„Wie geht es dir? Hast du dich erholt? Geht es dir gut? Setz dich doch.“

„Was willst du?“

„Ein Mädchen. Eins kann ich ich noch!“

Es beginnt wieder vor seinen Augen zu flackern. Er muss sich dringend noch mal hinlegen…