Liebevoll dekoriert

Wenn sich auch im letzten Bundesland die Sommerferien dem Ende zuneigen, wenn  die nächste Generation ABC-Schützen eingeschult ist, wenn auch den tiefenentspanntesten Schulabgängern endlich aufgefallen ist, dass sie es versäumt haben, sich um einen Ausbildungs- oder Studienplatz zu kümmern, dann ist es endlich wieder soweit: Weihnachten steht vor der Gartenpforte. Bis es sich die Einfahrt hochgequält hat und die Haustür blockiert, dauert es zwar noch ein paar Wochen und Monate, aber die Supermarktketten in diesem unserem Lande befinden sich bereits, gut vorbereitet, in einer vorweihnachtlichen Umlaufbahn. Die erste Marzipankartoffel, der erste Gewürzspekulatius, das erste Lebkuchenherz. Klammheimlich stehen sie auf einmal palettenweise und recht unscheinbar, getarnt als Sonderposten, kurz vor den Kassen in den Gängen und warten, Harmlosigkeit vorgaukelnd, auf ihre ersten Opfer. Und wie gern bringe ich mich als solches dar. Die erste Marzipankartoffel, der erste Gewürzspekulatius, das erste Lebkuchenherz. Sie alle ereilt bereits Mitte September ein früher und schmerzloser Tod. Zur pervers-mentalen Befriedigung meiner Lust, werden sie gierig durch einen engen Schlund ins ewige Dunkel gewürgt, der langsamen Zersetzung entgegen. Der Sucht ist genüge getan. Fürs erste!

Liebevoll dekoriert

Wenn die Tage spürbar kürzer, kälter und nebliger werden, wenn man in den Supermarkt des eigenen, wie auch immer begründeten, Vertrauens eilt, um sich ein Tütchen Marzipankartoffeln, Lebkuchenherzen oder Spekulatius zu kaufen, in der Absicht diese gemütlich auf dem Sofa unter zu Hilfenahme einer Kanne heißen Tees oder Kakaos der langsamen Zersetzung, siehe oben, zuzuführen, sieht man sich bitter enttäuscht. Wohin das Auge auch blickt, all überall schaut es in schaurig grinsende, innen beleuchtete Kürbisköpfe, Hexen- oder Vampirfratzen und hohle Totenköpfe. Halloween! Statt den herbeigesehnten Lebkuchen und verschämt aus den Kartons blickenden Schokoladenweihnachtsmännern protzen Sonderabfüllungen von  Blutorangennektar als Vampirtrunk, tarnen sich ordinäre Schokaladenpuddinge als frisch abgefüllter Hundekot, biedern sich Paprikachips in Spinnenform dem minderjährigen Konsumenten an. Mein, das ganze Jahr über stets freundlicher, Marktleiter schlurft mir als Glöckner kostümiert entgegen, ein Bein nachziehend und darum bemüht dekorativ zu sabbern, während er meine Ehefrau anfleht: „Esmeralda, Asyl!“ Meinen eifersüchtigen Tritt vors Schienbein quittiert er mit einem schmerzhaften Stöhnen: „Danke, Herr, dass Ihr mich bemerkt  habt.“ Dann schleppt er sich davon, um von der nächsten Kundin Schutz und Mitleid zu erbetteln. Das ganze Einkaufsparadies hat sich in eine wabernde, spinnwebüberzogene, übelriechende, sumpfige Kloake verwandelt. Von Spekulatius keine Spur. Enttäuscht vom Leben, trolle ich mich zur Kasse, um meinen Einkauf rechtmäßig durch Bezahlung in mein Eigentum zu überführen.

Glaubte ich mich dem Wahnsinn zu Hause glücklich entzogen zu haben, sah ich mich auch hier getäuscht. Eine nicht endenwollende Karavane gefräßiger, unverschämter, schlecht verkleideter, dafür mit großen Stoffbeuteln ausgestatteter Nachbarskinder klingelte unaufhörlich Sturm und begehrte unter Anwendung fragwürdiger Drohungen wie „Süßes oder Saures“ die Herausgabe unserer Schokoladenvorräte. Zu meinem tiefsten Bedauern habe ich den Spruch offenbar falsch interpretiert, denn nachdem ich für zehn Kinder je eine saure Gurke aus dem Einmachglas gefischt und in ihre Stoffbeutel geschmissen habe, setzt eine gnadenreiche Ruhe ein. Auf meinem Haus lastet fortan der Bannstrahl des „Großen Kürbis“, auf das fortan kein fröhliches Kindergeschrei mehr auf meinem Grundstück erklingen möge, oder so ähnlich. Danke, Großer Kürbis. Erst zwei Wochen später, bekam meine Lieblingsgattin Wind von der Sache, als eine Nachbarin sie völlig erbost ob ihres hartherzigen, geizigen Idioten von Ehemann zur Rede stellte.

Nur wenige Tage nach diesen denkwürdigen Ereignissen suchte ich abermals meinen Supermarkt auf, nicht ohne vorher eruiert zu haben, ob noch irgendwelche überflüssigen Feste zwischen Halloween und Nikolaus zu begehen seien. Der Marktleiter kam mir verkrampft freundlich lächelnd und immer noch humpelnd und sein Bein nachziehend entgegen. Ich jedoch ignorierte ihn, nach vorn gepeitscht von einem namenlosen Schmacht nach Marzipan, Lebkuchen und Spekulatius. Der geneigte Leser stelle sich mein Entsetzen vor, als ich auf dem Platz, der bisher die Objekte meiner Begierde beherbergt hatte, eine Palette  preisreduzierter Halloween-Artikel fand. Mit irrem Blick drehte ich mich im Kreis, ich spürte einen zarten Schaum vor dem Mund. Gerade noch sehe ich den Marktleiter sich in Richtung Käsetheke zurückziehen. Da er aber noch unter den Nachwirkungen von Halloween leidet, ist es mir ein Leichtes ihn einzuholen. Ich stürze mich auf ihn, mit einem gezielten Tritt zertrümmere ich auch noch sein anderes Schienbein, um jede Möglichkeit, ja, jeden Gedanken an Flucht im Keime zu ersticken, packe ihn mit beiden Händen vorn am Kittel und mit heiser gestammelten Worten, schüttele ich ihn, auf das ich ihm sein Geheimnis entreiße.

„Wo sind sie? Wo? Spuck’s aus, du gottverfluchter Auswurf der Hölle. WO?“ Die nackte Panik steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ich ertappe mich dabei, seinen schlotternden Anblick zu genießen. „Zweiter Gang rechts“, haucht er schreckensstarr, dann verdreht er die Augen und fällt in Ohnmacht. Ich lasse ihn zu Boden fallen, hetze in die angegebene Richtung… Als ich um die Ecke biege, halte ich jäh inne und weide mich an dem Bild, welches sich mir bietet.

Eine ganze Regalreihe Weihnachten. Die Tüten mit Gewürzspekulatius stehen Schulter an Schulter mit Butter- und Mandelspekulatius. Lebkuchen in Herzform und im Stern-von-Betlehem-Design reiben sich zärtlich an Pfeffernüssen, Aachener Printen und Dominosteinen. Schokoladenkügelchen und –täfelchen in glitzerndem Papier. Marzipankartoffeln. Marzipanbrote in allen Größen, überzogen mit Zartbitter- und Vollmilchschokolade. Und Weihnachtsmänner. Große, mittlere und kleine. Aus Vollmilch- Zartbitter- und weißer Schokolade. Mit Nüssen, Mandelsplittern und Pfefferminz. Ich nehme die Parade der freundlich lächelnden Weihnachtsritter ab, die vor mir mit prall gefüllten Säcken salutieren. Schamhaft errötend, gleitet mein Blick weiter an dem Regal entlang. Adventskalender in allen Preislagen. Gefüllt mit Spielzeug oder Schokolade. Trendiger Christbaumschmuck und klassische Strohsterne, Lichterketten und echte Kerzen in weiß und rot. Geschenkpapier in Gold und Silber, bunt bedruckt mit Comicfiguren für Kinder, mit Engeln und Weihnachtsmännern im Stile eines Pablo Picasso, abstrakte Muster, schwarz mit silbernen Sternen. Adventskränze in vier verschiedenen Durchmessern, wahlweise zum selber schmücken oder bereits liebevoll dekoriert von, im Akkord, unter unmenschlichen Bedingungen, schuftenden chinesischen Tagelöhnern. Das Regal selbst ist verbrämt mit Kunsttannengirlanden, in die Lichterketten geflochten sind. Rote, blaue, orange und grüne Lichter blinken fröhlich zu mir herüber. Auf dem Regal thront der Weihnachtsmann in seinem Schlitten, der von einem rotnasigen Rentier gezogen wird. Santa winkt gleichförmig mit einem Arm, die Rentiernase pulsiert rotglühend.

Ich belade meinen Einkaufswagen mit allem, was Herz und Magen begehren. Auf dem Weg zur Kasse lächle ich freundlich und warmherzig den Marktleiter an, der, noch etwas zittrig auf den Beinen, an einem Regal lehnt und weint. Sein Anblick rührt mich an. Aufmunternd klopfe ich ihm auf die Schulter und stecke ihm eine Marzipankartoffel in den, nach Luft, hechelnden Mund. Als ich an der Kasse bin, höre ich ihn röcheln und würgen. Ich drehe mich um, und sehe, dass er leicht blau angelaufen ist. Furchtbar, diese Gier, mit der manche Menschen alles in sich hineinstopfen. Mit Genuss nasche auch ich ein Kartöffelchen und schwelge in Vorfreude auf den Weihnachtsmarkt und die Adventszeit. Ich denke an die Ruhe und Besinnlichkeit, die mit diesen Tagen einhergeht. Ich liebe Weihnachten.