Morgenroutine

Wikipedia beschreibt Routine als eine Handlung, die durch mehrfaches Wiederholen zur Gewohnheit wird. Die Morgenroutine, die in unserem Haushalt Einzug gehalten hat zeichnet sich dadurch aus, dass sie nie zu hundert Prozent der Routine des vorherigen Morgens gleicht, einer hochkomplizierten Choreografie folgt und bereits am Abend vorher beginnt.

Zu meiner Schulzeit hatte der Stundenplan, der mit einem Magneten am Kühlschrank hing oder mittels, mehr oder weniger kunstvoll, abgerissener Tesafilm-Streifen an einer der diversen Küchenschranktüren befestigt wurde, die Aufgabe der Hausfrau und Mutter klar und deutlich Auskunft darüber zu geben, wann die Zukunft der Familie aus der Schule kam und das Mittagessen auf dem Tisch zu stehen hatte. Darum war er idealerweise auf Augenhöhe der Mutter angebracht, die sowieso die einzige war, die da regelmäßig drauf geschaut hat. Der Stundenplan war bis auf kleine Abweichungen, wie z. B. nachsitzen – was Papa dem Zögling sehr zügig und unpädagogisch, aber dafür effizient mit bewährten Methoden ausgeredet hat – oder in sehr seltenen Fällen Krankheit des Lehrkörpers, verlässlich.  Heute gibt es die Stundenpläne in unserem Haushalt in zweifacher Ausfertigung: einmal für jedes Kind und jeweils ein Exemplar wie gehabt in der Küche. Ich weiß von einem Haushalt, in dem ein dritter im Bad hängt, und der dort sanft, aber beständig, den Teenager daran erinnert, so langsam vor dem Spiegel fertig zu werden, aber hierbei handelt es sich um einen Mädchenhaushalt. Ich habe nur Jungs, die Zeit, die sie im Badezimmer verbringen, ist also überschaubar. Aber egal wo und in welcher Stückzahl die heutigen Stundenpläne in einem Haushalt vorhanden sind, es eint sie ihre Eigenschaft höchstens noch als grobe Richtschnur gelten zu dürfen.

Am Abend konsultieren wir Eltern also die Stundenpläne in der Küche um festzustellen, wann die zukünftigen Herren der Schöpfung in die Schule müssen, um daraus unter Berücksichtigung der individuellen Rituale zu berechnen, wer wann geweckt werden muss. Dabei ist aber auch zu erwägen, ob am Abend vorher der eine oder andere schon geduscht hat, weil er möglicherweise Basketballtraining hatte. Das würde bedeuten, dass derjenige dann wiederum etwas später geweckt werden könnte, weil dann morgens die NATO-Alarm-Wäsche reicht. Was sowohl der Umwelt als auch bei der Jahresabrechnung unserer Haushaltskasse zu Gute kommt, und für eine andere Reihenfolge in Bezug auf die Badezimmerbelegung sorgt. Bitte, ersparen Sie mir den Einwand mit dem Wecker und der Selbstständigkeit. Auch das funktioniert nur bei Mädchen. Irgendwie auch bei uns, ja, gut. Aber ich altere dabei um Jahre. Jeden Morgen.

Nachdem wir also allgemein verbindlich verkündet haben, wer wann in den nächsten Tag startet, kommen gerne Sprüche wie: „Ups, habe ich ganz vergessen Euch zu erzählen: wir besuchen morgen mit dem Politik-Kurs die Bürgerschaft. Um 10:40 h sollen wir da sein, vorher kein Unterricht, reicht also wenn Ihr mich um 9 h weckt. Danke. Und wo ist eigentlich die Straßenbahn-Monats-Karte?“ Oder auch: „Die Englisch-Lehrerin ist auf Fortbildung, und wir müssen erst zur Zweiten da sein. Dafür gehe ich hinterher noch mit zu Paul, an unserem Referat arbeiten. Keine Ahnung wie lange. Habe Handy dabei, melde mich. HDGDL*.“ Beliebt sind auch Meldungen dergestalt, dass AGs, also Arbeitsgemeinschaften, ohne die vermutlich nicht mal mehr eine Baumschule auskommt, kurzfristig verlegt, verlängert, gekürzt oder komplett abgesagt werden.

Auch meine Frau verkündet ab und zu, dass ein Patient früher kommt, und sie darum schon um sieben in der Praxis sein muss, oder ein anderer Patient hat abgesagt, und darum geht sie erst zu halb neun aus dem Haus. Auch das muss bei dem morgendlichen Ablauf berücksichtigt werden. Irgendwann am Abend gibt es dann eine relativ zuverlässige Hochrechnung, die zumindest vorgaukelt, man hätte jetzt alles im Griff und könne gut vorbereitet zu Bett gehen. Bis zum nächsten Morgen.

Es wird geweckt, und wieder eingenickt, ein zweites Mal energisch geweckt, gemäß der festgelegten Reihenfolge ins Badezimmer geschlurft, geduscht und gewaschen, erste Scherze ausgetauscht, während ich mich in die Küche schleppe und Frühstück vorbereite. Kaffee, Tee, Kakao, Toastbrot oder Aufbackbrötchen, diverse Marmeladen, Nutella, Milch, Zucker, Müsli, Wurst, Käse, Zeitung, Festnetztelefon, Handy und Laptop.

Wissen Sie, das ist so: Während wir frühstücken streiten sich Petra und die Jungs um den Sportteil der Zeitung, ganz besonders wenn Werder Bremen oder die Eisbären Bremerhaven gespielt und im Idealfall auch noch gewonnen haben. Wenn beide gleichzeitig gespielt und gewonnen haben, herrscht Ausnahmezustand. Ich werde dabei nicht berücksichtigt. Ich bin Schalke-Fan und somit sowieso nur geduldet aufgrund der verwandtschaftlichen Verhältnisse. Ich habe mich mit dem Stadtteil-Kurier und der Wümme-Zeitung zufrieden zu geben. Irgendwann klingelt dann das Telefon und irgendeiner von Jonathans Klassenkameraden ist am Telefon, der nach den Hausaufgaben für die erste Stunde fragt oder wissen will, ob Jo schon gehört hätte, dass der Mathelehrer krank ist. Und da kommt der Laptop ins Spiel.

Wie bereits dargelegt, stellt der gute alte Stundenplan nur noch einen ungefähren Überblick dar, der nicht zu ernst genommen werden sollte, die wirklich wichtigen News stehen auf der Homepage der jeweiligen Schule und dort auf dem Vertretungsplan. Es lohnt sich aber nicht da am Abend vorher einen Blick reinzuwerfen, weil die Lehrer ja erst nachts erkranken und am nächsten Morgen dann Meldung machen. Und weil ich ja sowieso „null Checkung“ habe, und das bei mir alles viel zu lange dauert, sehen die hauseigenen Computergenies lieber selber nach. Also wird mit dem Laptop das Frühstücksgeschirr zur Tischmitte geschoben, und somit alles andere auf dem Tisch Befindliche im Mittelpunkt der Tischplatte komprimiert. Was dann dort sichtbar wird, erinnert schon mal an tektonische Verwerfungen. Der via Daten-Highway ermittelte Status Quo soll nun per Telefon dem Kumpel verkündet werden. Allein, das Telefon ist abgängig. Prüfende Blicke auf die Ohren der anderen Familienmitglieder: nein, keiner telefoniert. Also wird der Rechner halb zugeklappt und der Sohn blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum. Ach, da ist es ja. Unter dem gekochten Schinken? Seltsam. Die Bestätigung geht raus, man verabredet sich etwas früher als nötig an der sogenannten Cafete, und mit der Bemerkung „ich gehe dann mal nach oben, noch’n bisschen chillen“, entschwindet er unseren Blicken.

In der Zwischenzeit hat Petra einen Anruf von einer ihren Mitarbeiterinnen auf dem Handy entgegengenommen, die sich auch krank gemeldet hat. Und nun greift sich meine Frau den Rechner, hackt sich in den Praxiscomputer um festzustellen, welchen Patienten man denn nun mal eben absagen muss, damit diese sich nicht vergebens auf den Weg machen.

Jasper bekommt von alledem nichts mit, er hat sich in seine Basketballzeitschrift vertieft und ist selig mit den Spielberichten aus der NBA, den Statistiken und den Trades der neuen Spieler.

Und wenn es gerade ganz friedlich ist, und jeder den Teil der Zeitung hat, den er möchte, Kaffee und Tee wohlige Wärme erzeugen und die Lebensgeister weckt, springt Jasper mit den Worten: „Heilige Scheiße, warum sagt mir keiner, dass es schon zwanzig nach sieben ist“, auf, jagt die Treppe hoch, um mit der einen Hand den MP3-Player in Betrieb zu nehmen, mit der zweiten Zähne zu putzen und mit der dritten die Haare zu kämmen. Multitasking 2.0.

Und dann, ab ca. 8 h, wenn alle meine Schätzchen aus dem Haus sind, beginnt meine Morgenroutine. Und die verdient diesen Namen dann auch.

*HDGDL – Abkürzung für „Hab dich ganz doll lieb“. Wussten Sie schon. Wie schön für Sie; aber niemand liebt Klugscheißer.