Schwarz-Rot-Beige

Ich bin 50 (in Worten fünfzig). Das kann jedem passieren, wenn nichts dazwischen kommt. Ein früher Heldentod z.B. im Stile eines Winnetou oder James Dean. Das ist kein Drama, ich habe es als deutlich schlimmer empfunden 18 zu werden. Ich habe seinerzeit anlässlich der Tatsache, dass ich für mein zukünftiges Tun und Lassen fürderhin vollumfänglich selbst verantwortlich sei, Trauer getragen in Form einer, extra für diesen Anlass käuflich erworbenen schwarzen Feinripp-Unterhose mit Eingriff. Auch dass ich mich vor kurzem erst fragen lassen musste, ob ich tatsächlich noch länger als fünf Jahre arbeiten müsse, erheitert mich sehr. Übel jedoch ist mir die Tatsache ins umwölkte Bewusstsein gesickert, dass ich beginne, mich auch wie ein Mitglied der Generation 50+ zu kleiden. Jedenfalls in meiner Freizeit, beim Camping.

Ich möchte nur ungern Werbung machen für bestimmte Produkte oder Marken, aber um die bedrohliche Zwangslage in der ich mich befinde Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, zu verdeutlichen, gleichsam durch die Fontanelle ins Hirn zu hämmern, komme ich nicht umhin, mich als Fan einer Outdoor-Marke zu bekennen, deren Name sich mit Wolfshaut übersetzen lässt und die das gleiche Logo führt, wie eine äußerst links zu verortende Tageszeitung Berliner Provenienz.

Durch einen für mich glücklichen, für den Vorbesitzer eher nicht ganz so glücklichen Umstand, denn er verstarb kaum dass er die Jacke einmal trug, kam ich in den Besitz eben dieser Jacke, die nicht nur mit einer Wind und Wasser abweisenden Membran ausgestattet war, sondern auch noch über eine Fleece-Jacke verfügte, die mittels eines Reißverschlusses in die Jacke hinein- oder heraus“gezippt“ werden konnte und sich so als unverzichtbarer Begleiter durch alle Jahreszeiten nachgerade aufdrängte.  Ob der Tod des Vorbesitzers im Zusammenhang mit der Jacke stand oder dem fortgeschrittenen Alter geschuldet war, habe ich versäumt zu recherchieren. Aber da ich die Jacke häufiger trage und mich, von leichter Hypertonie abgesehen, einer guten Gesundheit erfreue, bin ich geneigt, die Jacke von jedwedem Verdacht reinzuwaschen, aktiv am Ableben des Erblassers mitgewirkt zu haben, nur um sich bei mir heimisch zu fühlen. Konnte die besagte Jacke doch nicht wissen, wer sich in Zukunft ihrer annehmen würde… Zurück zum Thema.

Ich befinde mich also auf einem maritim gelegenen Campingplatz auf der Suche nach ausreichend Wind, damit das Kind in mir „seinen Drachen steigen lassen kann“. OK, der Drachen ist eine Lenkmatte und selbige ist natürlich weit davon entfernt, sich wie ein statisch in der Luft hängender, rautenförmiger Drachen zu verhalten. Ich mache mich also auf, den Deich zu erklimmen und während ich mir eine freie Fläche suche, begegne ich nicht nur vielen Menschen, sondern auch einer ganzen Reihe Mitgliedern der Generation „50 ist das neue 30“.

Wer kennt ihn nicht den Spruch „Man ist so alt wie man sich fühlt“? Mich jedoch überrollte mit einer, an einen Tsunami gemahnenden Gewalt, die Erkenntnis: „GELOGEN! ALLES ERSTUNKEN UND ERLOGEN!“ Und dies vermutlich von Mittfünfzigern, die in prädementer Einfalt nicht ertragen können, dass sie eben nicht mehr in Hotpants oder Shorts in die Öffentlichkeit gehen sollten, wenn sich sogar die Krampfadern im Partnerlook an den Waden und Schienbeinen der, auf dem Deich auf und ab hospitalisierenden, Ehepaare, im Synchronkräuseln üben.

Ich stehe also auf der Deichkrone, um zusammen mit meiner Lenkmatte den Elementen zu trotzen. Und da eine verdammt steife Brise ihr Bestes gibt, um mich vom Deich zu blasen, habe mich also in die oben erwähnte Jacke gehüllt. Die neongrüne, weithin sichtbare, Matte tanzt im Wind, und fügt sich mit dem nötigen Widerstand meiner Lenkung, fliegt Achten, stürzt sich mal nach rechts, mal nach links in Richtung Grasnarbe hinab, nur um im letzten Moment von mir wieder steil himmelwärts dirigiert zu werden. Damit sich die über den Deich flanierende Masse Mensch nicht belästigt fühlt, habe ich also nebenbei auch ein Auge auf die Spaziergänger, damit ich das Flugobjekt nicht etwa zur falschen Zeit nach unten lenke und es womöglich noch zu einem höchst unerwünschten Vollkontakt zwischen Gleiter und Geriatrie kommt.

„Guck da“, denke ich bei mir, „da haben aber viele so eine schöne schwarz-rote Jack-Wolfskin-Jacke an.“  Und als der nächste Pulk in meine Richtung marschiert: „Da haben sogar sehr viele so eine schwarz-rote Jacke an. Und die haben auch alle die Fünfzig überschritten…“

Dieser Gedanke ist dermaßen irritierend, dass ich die Lenkmatte in der Ostsee versenke und während der nächsten Minuten der Bergung von meiner Bestürzung abgelenkt bin: DIE SEHEN ALLE AUS WIE DU!

Wieder angekommen an meinem Campingbus, sinniere ich bei einer guten Tasse Herztropfen über die Vergangenheit nach, als die mitteleuropäische Menschheit ab Fünfzig sich noch in, genau dieser Altergruppe vorbehaltenen Farbe, Beige gewandete und mithin schon von weitem als Aspirant auf einen Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln zu  identifizieren war. Früher war alles besser, versucht der, offenbar auch mir inne wohnende und sich bereits in mentaler Inkontinenz übende, Spießer mir zu suggerieren. „Unsinn,“ denke ich empört und ertappt zugleich. Die Herztropfen kippe ich Gras und fülle die Tasse bis zum Rand mit Single Malt, dazu schiebe ich eine Aufnahme von Ram Jam in den CD-Player des Autoradios und reiße demonstrativ die Lautstärke auf Anschlag, um meine Bereitschaft zur ultimativen Rebellion zu beweisen. Und während „Black Betty“ über den Campingplatz hämmert, kommt die Generation 50 Plus aus ihren Wohnwagen und Vorzelten und fängt auf dem Weg an zu tanzen und das schütter-ergraute Haupthaar noch einmal zu headbangen. „Das kannst du also auch nicht“, hohnlacht der Spießer in mir. Resigniert trage ich mir für Montag in meinen Kalender ein: Pflegeplatz suchen. In einem letzten Aufbäumen zerre ich mir die Jeans vom Körper, ziehe eine Shorts an und patroulliere auf dem Deich herum. „Seht her!“, schreit es in mir, „Keine Krampfadern!“