Schwedenhappen

Er, dessen Name nicht genannt werden darf in dieser Geschichte und der doch dem einen oder anderen Leser gut bekannt ist, geht anderthalb Jahre nach dem erfolgreichen Bestehen  seines Abiturs nach Kiel, um ein Studium der Skandinavistik und Politikwissenschaften aufzunehmen. Wer jetzt argwöhnt, dass er 18 Monate lang seinen bedauernswerten, gebeutelten Eltern auf der Tasche gelegen und den lieben Gott einen guten Mann hat sein lassen, liegt damit natürlich völlig… richtig. Naja, nicht ganz, zugegeben. Aber er hätte es, wenn wir bösen, garstigen Eltern es denn zugelassen hätten. Es ging unentschieden aus: Insgesamt neun Monate lungerte er zuhause rum, verbrauchte Sauerstoff und machte Dreck und neun Monate war er ein mehr oder weniger produktiver Teil der Gesellschaft. Von diesen neun Monaten Produktivität entfallen sechs Monate auf ein Praktikum bei einem privaten Radiosender in Hannover, in denen er die Freuden des Drei-Schicht-Systems kennengelernt und offenbar auch seine Berufung gefunden hat und drei Monate auf einen Job in einer Druckerei in Bremen, wo er nicht nur der Lust am Drei-Schicht-System weiter gefrönt, sondern auch noch Geld verdient hat.

Seit dem 1. Oktober 2014 ist er also offiziell Student, mit Zimmer im Studentenwohnheim, altem VW und neuem Toaster. Preisgünstige Pizzeria und coole Kneipe, in der ein ganz passables Frühstück für den kleinen Geldbeutel serviert wird, in unmittelbarer Nähe. Da wir das Zimmer im Studentenwohnheim zuvor nicht besichtigen konnten, fuhren wir also mit einer gewissen Spannung nach Kiel, um mal zu prüfen, was wir unserem Erstgeboren denn da zumuteten. Die Sorge war umsonst. Das Zimmer war zwar klein, aber frisch renoviert und mit neuen Möbeln ausgestattet. Eigenes Bad, Gemeinschaftsküche. Alles gut. Das erste Oktoberwochenende verbrachten wir also in Kiel. Natürlich auch, um festzustellen, was denn noch so benötigt wurde, z. B. an Möbeln. Regale. Natürlich. Für die zu erwartende studentische Literaturflut. Und wo bekommt man schnell und nicht zu teuer Regale? Wer mich kennt weiß, wie sehr ich es liebe an einem Samstag zu IKEA zu fahren. Die in anderen Geschichten schon häufiger erwähnte, und im Prinzip hoch geschätzte, Gattin verstieg sich sogar zu der grenzdementen Idee, in diesem Möbelhaus zu frühstücken. Also, verstehen Sie mich nicht falsch. Nicht die Idee an sich ließ mich an der Zurechnungsfähigkeit meiner Frau zweifeln, sondern ihre Ernsthaftigkeit, dies mit mir zu tun. Ein Freund von mir geht hin und wieder mit seiner Mutter samstags bei IKEA frühstücken. Das ist ok. Er ist Buchhalter, sein Leben also eher frei von Aufregung und Stress und er kann sich hinterher eine Woche im Büro davon erholen.

Nun macht der schwedische Möbelgigant nicht nur Schlagzeilen, durch verkappten Rassismus, Frauendiskriminierung und Kinderarbeit*, sondern seinen Gastronomiebereich auch bereits um 9 Uhr auf. Da das Möbelhaus an sich erst um 10 Uhr seine Pforten den Grobmotorikern unter den Modellbauern öffnet, bleibt also eine ganze Stunde, um sich zu stärken und sich auf den vor einem liegenden Ansturm auf Billy, Pax, Lack und Poäng (wer hat sich eigentlich diesen Namen ausgedacht?) vorzubereiten. Das Problem war, dass er, dessen Namen noch immer nicht genannt werden darf, folgenden Erlass dem Volke kund und zu wissen gab: „Nicht vor halb zehn wecken.“ Dementsprechend waren wir gegen 10:30 h vor Ort und erklommen die bekannte IKEA-Treppe, um durch das Austellungslabyrinth zum Futtertrog zu gelangen. Dachte ich. Tatsächlich wurden in den folgenden 90 Minuten alle möglichen und unmöglichen Varianten diskutiert und anhand der üblichen und an jeder Ecke herumhängenden papiernen 1-Meter-Maßbänder die Regale und Beistelltische vermessen und ins virtuelle, in unserer Fantasie schwebende, Studentenzimmer eingepasst. Petra leistete wahrhaft Übermenschliches, um eine gangbare Lösung zu erarbeiten, allein es scheiterte an der Unentschlossenheit unseres Sohnes.

Endlich (Endlich?) gelangten wir am Ende des Ausstellungschaos und kurz vor dem Wiederabstieg in die Markthalle ins SB-Restaurant. Zu meinem Erstaunen gab es noch jede Menge freie Plätze. Wir suchten uns einen Tisch der nicht so sehr von Speiseresten überzogen war und ich wurde bestimmt, selbigen vor Annektierung durch andere Kunden zu bewahren, während Petra und unser zukünftiger skandinavische Politikstar sich aufmachten, um das Frühstück auf Wikingerart zu erbeuten. Die Menschenmassen vor Kasse und SB-Theke erinnerten stark an die Zuteilung von Bananen in der deutschen sowjetisch besetzten Zone. Nach erstaunlich kurzer Zeit standen die beiden wieder am Tisch bewaffnet mit zwei Tassen und einem Glas. Alle drei Gefäße leer bis zum Rand.

„Frühstück gab es nur bis elf“, wird mir das Fehlen von Brötchen, Butter, Marmelade, Käse und Wurst erklärt, „die stehen schon alle für das Mittagessen an.“ Was in diesem Fall bedeutet: Gericht des Tages ist Kohlroulade mit Salzkartoffeln und einem Softdrink nach Wahl für € 3,99. Andere Gerichte gab es auch, aber das Tagesgericht ist natürlich besonders reduziert. Sowohl was den Preis angeht, als auch in Bezug auf die appetitliche Darbietung. Aber wenigstens Kaffee, Tee und Saft wollten wir uns nicht versagen und so trabten wir denn mit unseren leeren Behältnissen zur automatisierten Getränkeausgabe. Nun ist es relativ simpel heißes Wasser einem Automaten entströmen zu lassen und dann einen Teebeutel reinzuhängen. Auch Cola oder Saft zu zapfen ist keine echte Herausforderung. Bei Kaffee jedoch, scheint es aufzuhören. Was der Automat mir als Kaffee unterschieben wollte, war schwarz und heiß. Und genau da endeten die Gemeinsamkeiten. Gegen diese Brühe war selbst der Automatenkaffee, der auf den Bahnhöfen dieser Republik den ahnungslosen Reisenden angetan wird, reines Ambrosia. Da meine Klagen aber kein Gehör finden, würge ich den Inhalt meiner Tasse die Speiseröhre hinab und freue mich darauf, diese Heldentat mit einer Tasse Kakaos zu belohnen. Der zweite Anlauf auf das Getränkeautomatenrondell füllt mir den Becher mit heißer Schokolade. Riechen tut es schon mal gut. Ein eindeutiger Gewinn gegenüber dem, als Kaffee bezeichneten, heißen Grabenwasser von vorhin. Heiß, wohlriechend, schokoladenbraun, wunderbar… Die Geschmacksrezeptoren auf meiner Zunge müssen noch paralysiert sein von dem Kaffee. Noch einmal die Tasse ansetzen, ein weiterer Schluck plätschert über die Zunge, aber es ändert sich nichts. Kakao auf Wasserbasis! Viel heißes Wasser, noch mehr Zucker und etwas Kakao. Ich fordere nun vehement die Aufmerksamkeit meiner Frau und begehre zu wissen, ob ihr eigentlich klar ist in welche kulinarische Hölle sie uns gelockt hat.

„Chill deine Base, Digga“, versucht mich mein Trabant zu beruhigen und greift nach meinem Becher. „Geht doch. Wo ist dein Problem?“ Sprichts und leert den Becher in seinen Magen. Es hält mich nicht länger auf meinem Stuhl, ich springe auf und taumel davon. Petra erkennt den Ernst der Lage und folgt mir, vermutlich um das Personal zu beschützen, vor dem in meinen Augen funkelnden Wahnsinn. Sie lotst mich zur Treppe die in die Markthalle hinunterführt. Auf dem Weg dorthin kommen wir an einem Tisch vorbei, an dem Jabba, the Hut sitzt und eine doppelte Portion Champignon-Rahm-Schnitzel mit Pommes Frites verzehrt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem Menschen begegnet zu sein, der auf zwei Stühlen sitzen musste.

„Schau mal, Petra. Und ich dachte Pottwale ernähren sich von Tintenfischen.“ Fatalerweise dreht Jabba jetzt den Kopf in meine Richtung, offenbar habe ich in meiner Verzweiflung ob des schlechten Kakaos doch nicht geflüstert. Auf der Flucht die Treppe hinab spüre ich Jabbas Blicke in meinem Rücken.

In der Markthalle angekommen, wird ein Einkaufswagen gegriffen und die Einkaufsliste abgearbeitet. Geschirr für zwei Personen, falls er mal Besuch bekommt. Du weißt schon, zwinker, zwinker. Wie soll man auf 11,5 m² Besuch empfangen? Gläser, ein Kissen, keine Tagesdecke (was soll ich damit?), zwei Spannbettlaken, ein fünfteiliges Topf-Set sowie diverse sonstige Küchenutensilien und anderen Kleinkram. Nach nur 60 Minuten stehen wir an der Kasse, Jabba auch.

Auf dem Parkplatz atme ich tief durch. Ich denke an Milva:

„Hurra, wir leben noch. Was mussten wir nicht alles überstehen und leben noch. Was ließen wir nicht über uns ergehen und leben noch…“

Mein lieber Jasper,

Nur für Dich war ich bei IKEA in Kiel.

Nur für dich, doch du wolltest nicht so viel.

Ich hätt‘ dir ein Regal gekauft und auch aufgebaut.

Doch du hast es nicht gewollt, jetzt hast du’s dir versaut.

* (http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.enthuellungsbuch-seltsame-methoden-bei-mr-ikea.be8906a4-44d8-4347-8ba8-23b64e6bb403.html; http://www.welt.de/welt_print/wirtschaft/article5355952/Schwere-Vorwuerfe-gegen-Ikea.html)