Sommernachtsmorde

Der Westen der USA. Wir schreiben das Jahr 1890. Auf der Main Street eines namenlosen Kaffs stehen sich zwei Männer gegenüber. Die Gesichter sind verborgen im Schatten ihrer breitkrempigen Hüte, die sie zum Schutz vor der unbarmherzig vom Himmel brennenden Sonne tief in die Stirn gezogen haben. Der Schweiß rinnt ihnen an den Schläfen herunter.  Jeweils an der  rechten Hüfte hängt der Holster, darin ein Colt Peacemaker. Jene legendäre Faustfeuerwaffe, von der es heißt, sie habe den Westen erobert. Die Hand schwebt knapp über der Waffe, die Sicherungsschlaufe, die den Colt auch beim Reiten im Holster halten soll, ist bereits gelöst, das Duell steht kurz vor dem Höhepunkt. Die Kontrahenten taxieren sich; die Bürger der Stadt drängen sich in die Schatten der Häuser, die Mädchen verstecken sich hinter den Röcken ihrer Mütter, die Jungen haben sich auf der Veranda vor dem Drug Store zusammengerottet. Es wirkt, als würde die ganze Stadt den Atem anhalten. Plötzlich zuckt eine Hand zum Colt. Sekundenbruchteile später zieht auch der zweite Mann sein Schießeisen. Nahezu gleichzeitig spucken die Waffen ihr tödliches, heißes Blei mit peitschendem Bellen aus. Beide Männer gehen zu Boden. Während sich der eine jedoch instinktiv hat fallen lassen, ist der zweite, von der Wucht des Einschlags der Kugel in die Brust, ein paar Meter weit nach hinten geschleudert worden und bleibt leblos auf dem Rücken liegen. Schnitt. Tansania, Afrika. Im hohen Gras der Savanne pirscht sich ein Gepard an eine Herde Antilopen heran. Er beobachtet, er wählt aus, er verwirft. Der Gepard hat einen mörderischen Hunger. Seine Jagden waren in letzter Zeit nicht von sehr viel Erfolg gekrönt. Wenn es dieses Mal wieder schief geht, hat er ein echtes Problem. Dann wird er zu viel Kraft verloren haben, um schnell genug zu sein für einen neuen Versuch. Und auch wenn er die Hyänen noch ein paar Tage auf Abstand halten kann, ewig wird es ihm nicht gelingen. Er wählt erneut aus. Endlich hat er sich für eine Antilope entschieden; sie steht etwas abseits der eigentlichen Herde und dürfte leicht vom restlichen Pulk zu trennen sein. Er schätzt die Entfernung. Eigentlich müsste er noch dichter herankommen, bevor er einen jener Tod bringenden Sprints ansetzt, für die der Gepard so berühmt ist. Er spürt wie der Wind dreht. Jetzt hat die Herde seinen Geruch gewittert. Wie auf Kommando reißen sie die Köpfe hoch und wenden sich zur Flucht. Auch andere Tiere verlassen sich auf die Wachsamkeit der Antilopen und hetzen los. Die Erde bebt. Der Gepard schnellt nach vorne, innerhalb weniger Augenblicke hat der schnellste Jäger Afrikas seine Höchstgeschwindigkeit erreicht. Mit mehr als 100 km/h ist er jetzt unterwegs. Dieses Tempo kann er aber nicht weiter als maximal fünfhundert Meter durchhalten. Hat er seine Beute dann nicht zur Strecke gebracht, muss er die Jagd abbrechen. Aber er hat Glück. Sein Opfer ist noch zu unerfahren und vergeudet wertvolle Meter, weil es in Panik einen Bogen schlägt, bevor es der Herde zustrebt. Es wird sie nicht erreichen. Im vollen Lauf, wie ein Geschoß, mit 105 km/h, schlägt der Gepard ein und reißt das Jungtier zu Boden. Sein Kiefer packt zu. Es knackt hörbar. Schnitt.

Eine beliebige Stadt in Deutschland. Zeit: Sommer. (Tat)Ort: beinahe jedes Schlafzimmer. Es war heiß und unerträglich schwül in den letzten Tagen. Der Regen lässt auf sich warten, in den Gärten laufen die Pumpen auf Hochtouren. Bäche und Teiche fallen trocken. Träge schleppt man sich durch den Tag, jede Bewegung treibt den Schweiß aus den Poren. Am Abend fällt man erschöpft und ausgelaugt aufs Bett. Alle Fenster sind auf, in der irren Hoffnung, dass ein Luftzug die Schwüle lindert, welche hier, unter dem Dach, noch drückender ist. Nur die Härtesten ziehen das vollständige Nachtzeug an, kaum jemand deckt sich zu, und wenn, dann mit einem Bettlaken oder einem Bettbezug ohne Decke. Stille senkt sich über das Haus. Jetzt ist die Zeit für ein Duell der anderen Art, ein Überlebenskampf wie er ungleicher kaum sein kann. Häusliche Gewalt und eine Blutorgie, wie sie kein Regisseur eines Horrorfilms ersinnen könnte.

Ein hoher, singender Ton windet sich den Gehörgang entlang und wird vom Unterbewusstsein sofort als Basis für einen Traum verwertet. Theo liegt auf dem Behandlungsstuhl seines Zahnarztes. Eine Sprechstundenhilfe hält ihm mit brutaler Gewalt den Mund auf und lacht ihn aus, während sich der Bohrer bedrohlich in Richtung seines Unterkiefers senkt. Ihm fällt ein, dass er keine Betäubung bekommen hat. Wozu auch? Alle seine Zähne sind in Ordnung, die letzte Vorsorgeuntersuchung liegt erst zwei Wochen zurück. Was, um alles in der Welt, tut er hier? Plötzlich bebt die Erde! Der ganze Stuhl wackelt. Er reißt die Augen auf und … sieht Paula neben ihm im Bett auf und ab hüpfen. Dabei hält sie ihren neuen 1200 Seiten starken Historienroman in der Hand und knallt damit im Rhythmus ihrer Hüpfbewegungen gegen die Decke. Im Schein der Nachttischlampe sieht er an ihrer Wade eine kleine, weißliche Schwellung und einen Blutstropfen der am Bein herunterläuft. Das Biest hat offenbar ganze Arbeit geleistet. Sein Blick wandert zur Zimmerdecke. Dort prangt ein fetter roter Fleck. In der Mitte, schwarz, platt und zermatscht, die Ursache von Paulas Berserkergang.

„Leg‘ dich wieder hin. Du hast sie doch erwischt.“ „Da sind noch zwei. Ich war gerade eingeschlafen. Verdammt. Hilf mir mal.“ Gottergeben greift er sich seine Brille vom Nachtschrank und stellt sich auch aufs Bett. So stehen sie also gemeinsam auf der Matratze. Paula, die wie ein Gummiball zwischen Bett und Zimmerdecke auf und ab hüpft, und Theo, der nicht hüpft. Weil er weit über hundert Kilo wiegt und ein hüpfender Theo zum Einen dem Bett nicht gut tun würde und es zum Anderen kein schöner Anblick wäre. Ein bisschen eitel ist er ja doch. Wortlos nimmt er ihr das blutverschmierte Buch aus der Hand und wartet auf die Mücken die da kommen. Sehen kann er sie nicht und auch nicht hören. Und er hat ein feines Gehör. Das bedeutet, dass die Endgegner dieser Nacht sich irgendwo niedergelassen haben und warten bis die Luft rein und das Licht wieder aus ist. Paula hat den Mückenstich mittlerweile mit einem Antiallergikum bestrichen, und steht, die Fäuste in die Hüften gestemmt, in der Mitte der Raumes und sucht wutschnaubend die Decke ab. Bereit weitere Morde zu begehen.

Theo legt das Buch beiseite und sich wieder hin: „Die fliegen gerade nicht. Wir müssen warten bis wir sie wieder hören. Aber vielleicht sind es ja auch Mückenmännchen, die stechen nicht, das machen nur die Weibchen.“ „Ach was. Und weiß der Herr Klugscheißer auch, wie man die Männchen von den Weibchen unterscheidet?“ „Ja, klar. Man wird nicht gestochen. Ist doch logisch.“ Spricht’s und bekommt die Tube mit der Salbe an den Kopf geworfen. Theo kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Komm ins Bett, ich schlafe nackt und ohne Decke. Vielleicht werde ich ja gestochen. Wie du weißt, bin ich immun. Ich biete mich den Mücken quasi als Opfer dar.“ „Wie großmütig. Du wirst doch eh nicht gestochen, wenn ich neben dir liege.“ „Die Viecher finden dich eben genauso süß wie ich“, säuselt er und robbt näher, um seine unzüchtigen Gedanken, die ihm beim Anblick einer hüpfenden Paula durch den Kopf gegangen sind, in die Tat umzusetzen. Ein vernichtender Blick jagt ihn zurück in seine Hälfte des Bettes.

Abermals kehrt Ruhe ein… BAMM!

Theo wirft sich aus dem Bett auf den Boden, presst seinen Körper auf das Laminat und schützt seinen Kopf mit den Armen. Als keine weiteren Explosionen folgen, richtet er sich vorsichtig auf und schaut sich um. Das Haus steht noch, offensichtliche Schäden sind nicht erkennbar. Er blickt in Richtung Bett. Dort hockt, Gollum nicht unähnlich, eine diabolisch lächelnde Paula am Kopfende des Bettes und betrachtet sehr zufrieden einen weiteren rot-schwarzen Fleck an der Tapete über seinem Kopfkissen. Theo betet zu Gott, dass er gebissen wurde, dass es sein Blut ist, welches sich so großzügig über die Wand verteilt. Er macht eine Bestandsaufnahme, aber nirgends spürt er auch nur den Ansatz eines Juckreizes. Verdammt! Er setzt sich aufs Bett.

„Du hast versagt, nicht einmal als Opfer taugst du.“, stellt ihm Paula ein mieses Zeugnis aus. Dann nimmt sie ihr Bettzeug und verzieht sich ins Wohnzimmer. Mit den Worten „Ich komme wieder, wenn die dritte Mücke mit dir fertig ist.“, schließt sie die Schlafzimmertür hinter sich. Schon vor sehr langer Zeit hat er verstanden, dass in so einer Situation nicht diskutiert wird. Theo löscht das Licht dreht sich um und schläft ungestört bis zum Morgen. Die dritte Mücke war offenbar ein Männchen. Und dabei hätte er so gern einen Mückenstich vorzuweisen gehabt. Als er das Wohnzimmer betritt um Paula zu wecken, sitzt sie hellwach und lesend auf dem Sofa. Der Einband ihres Buches ist rötlich-braun verschmiert. Direkt unter ihrem linken Auge ist eine üppige Schwellung, glänzend vor frisch aufgetragener Salbe und auch der Zeigefinger ihrer rechten Hand ist voluminöser als er sein sollte. Wortlos wandert sein Blick an ihr vorbei zur Wand. Zwei…