Vortäuschen

„Arizona ist bekannt für Stiere und für Schwule. Wie ein Stier sehen Sie nicht aus!“ Wer den Film „Ein Offizier und Gentleman“ kennt, wird sich auch an diesen Satz erinnern. Louis Gosset jr als Drill Sergeant macht die neuen Rekruten rund, die eine Offizierslaufbahn bei der US Navy anstreben.

Unser Drill Instructor ist weiblich und artikuliert sich deutlich leiser und gewählter als Mr. Gosset. Und das Letzte was wir sollen, ist in Reih und Glied stehen. Nein, WIR brauchen Platz um uns rum. Denn wir sollen uns bewegen und durch einfache Yogaübungen besser atmen können. Das kommt dem Chorklang zugute.

Der Oberkörper wird aus der Hüfte heraus mit Schwung nach rechts und links gedreht. Da die Arme gaaaanz locker sein sollen, ist die Folge, dass selbige im Takt der Oberkörperdrehung wie Dreschflegel hin- und herfliegen. Das gehört so, so ist es richtig. Dafür brauchen wir Abstand. Falls nicht, ist stark mit dem Verlust von Brillen, Hörgeräten und Gebissen zu rechnen. Von evtl. Schmerzen bei ungewollten Feindberührungen ganz zu schweigen. Erschwert wird diese Übung durch die Choreographie des Atmens. Beim Ausdrehen ausatmen und beim Eindrehen einatmen. Oder umgekehrt? Ich bin habe nicht so genau zugehört, muss mich darauf konzentrieren total locker im Hier und Jetzt zu sein. Ich atme also irgendwie vor mich hin, und hoffe, dass meine Chakren gerade anderweitig beschäftigt sind. Aber auch diese Übung geht vorbei und die nächste ist schon eher für Grobmotoriker wie mich geeignet: Wie nehmen die Arme über den Kopf und dehnen uns abwechselnd über die rechte und linke Hüfte. Prima, denke ich, je mehr Hüftspeck desto weniger Dehnungswinkel. Entspannte Sache, das. Aber da war ja noch die Sache mit dem Qi. Während wir uns mehr oder weniger elegant überdehnen, sollen wir einatmen. Okay. Die gedehnte Seite spannt. Ich atme ein. Und höre die Ansage, dass wir in die gedehnte Flanke hinein atmen sollen. Schlagartig entgleitet mir die gebunkerte Luft, ich spüre wie das regionale Chakra zum Widerstand aufruft.

Ich kann in den Brustkorb atmen. Ich kann auch in den Bauch atmen. Ich kann NICHT in die Flanke atmen. Also, dehnen, einatmen und den Fluss meines Qi durch das reine Wunschdenken in die Flanke umleiten… Mein Qi ist leider indisponiert und füllt den Bauchraum, der Gürtel hält dagegen. Erfolgreich! Ganz toll, mein Gürtel ist entschlossener als ich. Nochmal, zur anderen Seite. Seitenstechen! Meine Energiezentren hissen die weiße Fahne.

„Lass es, alter Mann. Mach es wie immer“, raunt mir mein innerer Schweinehund zu. „Tu das, was du am besten kannst. Täusche es vor.“

Stimmt, im Vortäuschen bin ich ganz groß. Was habe ich nicht alles schon vorgetäuscht. Vor allem in Bezug auf… das Atmen. Da macht mir so schnell keiner ein X für ein U vor…

Sommer 1995: Ich hocke mit meiner hochschwangeren Frau auf dem Fußboden einer krankengymnastischen Praxis. Geburtsvorbereitungskurs. Die Kursleiterin ist beseelt von dem Gedanken, uns unwissenden Männern die Qualen einer Geburt nahezubringen.

„Männer, wir simulieren jetzt mal eine Presswehe. Nur wenn ihr eine Vorstellung davon habt, was in so einem Moment in euren Frauen vorgeht, könnt ihr während der Geburt wirklich von Nutzen sein. Ihr atmet jetzt bis ins Becken runter und in den Schmerz hinein. Ihr müsst den Schmerz willkommen heißen und dabei mit einem lauten und langen „Jaaaa“ den Schmerz annehmen. Ein Ja macht alles weit und entspannt. Ein Nein lässt euch verkrampfen und den Schmerz intensiver erleben.“ Zehn Männer schauen sich verlegen und peinlich berührt an.

Was dann kam, war ganz große Kunst. Simulieren heißt ja nichts anderes als: So tun als ob. Also vortäuschen. Aber weil Mann sowas nicht macht, zum einen weil er nicht will, zum anderen weil er sich fragt, wofür das gut ist und er keine plausible, logische Antwort findet, wird das Vortäuschen vorgetäuscht. Ich täuschte also vor, etwas zu tun, von dem schon im Arbeitsauftrag definiert war, dass ich es simulieren, also vortäuschen sollte. Super, klappte ganz wunderbar.

Als ich meiner Frau dann während der Geburt, bei einer heran rollenden, tsunamiartigen Presswehe dazu riet in den Schmerz hineinzuatmen und ihn anzunehmen, gab sie mir sehr deutlich zu verstehen, dass ich durchaus der Nächste sein könnte, der gezwungen ist Schmerzen willkommen zu heißen.

Zurück zur gruppendynamisch wertvollen, chorischen Yogaübung. Geredet wird währenddessen nicht. Das unterbricht den Fluss des Atems. Gar nicht gut. Und da ist sie dann doch ganz Drill Instructor.

Ich gebe vor bis ins Becken zu atmen. Selbiges erinnert sich, täuscht professionell eine Kontraktion vor und fühlt sich gleich 18 Jahre jünger.

Jaaaaaa……